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Es ist ohne Zweifel, daß der Violinist die Schulterblattsenkung beim
bogenführenden Arme anwendet und zwar dann besonders, wenn innigste,
intensivste Tonwirkung erzielt werden soll, ja, ich glaube, daß sie in diesen
Fällen die conditio sine qua non für das Prinzip größter Wirkung ein¬
dringlichster Tongebung ist. Bisher unbewußt angewandt, wird man nun¬
mehr die Lehre von der Schulterblattsenkung unbedingt in die Pädagogik
einführen müssen. Die Calandsche Schulterblattsenkung wirkt auf das Ge¬
wicht insofern, als sie durch Hebelwirkung eine Gewichtsentlastung des Armes
fühlbar werden läßt, dadurch eine geringere Arbeitsleistung der führenden
Muskulatur nötig macht und im Gefolge davon wiederum eine größere Be¬
herrschung des Druckelements herbeiführt. Die Schulterblattsenkung erweist
sich als ein die Tonbildung verfeinerndes und vertiefendes Element; mag
die Begründung sein welche sie wolle, das Wesentlichste der Bewegung
bleibt die Kraftentlastung, durch die eine außerordentliche Beherrschung des
Armgewichtes gewonnen wird zugunsten feinster Abwägung in der Ver¬
bindung von Druck und Zug des Bogens. Das Prinzip höchster
W i r k un g s i n t e n s i t ä t bei k I ei n s t e r Kr af 11 e i s t u n g k o m m t
durch die Schulterblattsenkung zum Ausdruck.
Aus : „Violintechnik und Geigenbau“ von Hans Diestel.
(Verlag C. F. Kahnt Nachfolger, Leipzig 1912.)
Aus Abschnitt: „Über die Schulterblattsenkung“.
Ich habe die Information über „die Schulterblattsenkung“ bei
E. C a 1 a n d selber gesucht (das „Künstlerische Klavierspiel“ und „die Aus¬
nutzung der Kraftquellen beim Klavierspiel“) und die in Rede stehende Be¬
wegung an mir selber und an Schülern versucht und geübt. Die dabei von
mir beobachtete günstige Wirkung auf die Spielfähigkeit läßt es mir wert¬
voll erscheinen, den Gang und die Resultate meiner Versuche mitzuteilen.
Von der unwillkürlichen Mitbewegung des Schultergürtels beim Arm¬
heben ausgehend, hat E. Caland eine Kunstbewegung angegeben (die uns
nicht ohne weiteres zu Gebote steht, sondern erlernt
werden muß). Das Schulterblatt soll abwärts gezogen werden und in
gesenkter Stellung fixiert werden, während der Arm nach vorne erhoben
wird. Es handelt sich also um eine selbständige, ge¬
wollte Bewegung des Schultergürtels, welche zunächst
die unwillkürliche Mitbewegung des Schulterblatts
beim Armheben verhindern soll.
Die Kraft, die diese willkürliche Senkung des Schulterblattes bewirkt,
wird durch die Zusammenziehung der Rückenmuskeln unter besonders starker Be¬
teiligung der unteren Portion des Latissimus dorsi gewonnen. Durch gleichzeitige
Schulterblattsenkung beim Armheben vorwärts, wird die Arbeitsleistung und
damit der Kraftaufwand der den Arm aufwärtsziehenden Muskeln verringert
(also hier Kraft gespart), während die Arbeitsleistung der das Schulterblatt
abwärtsziehenden Muskeln vergrößert wird. Es werden also die Rücken¬
muskeln zu kräftiger Mitarbeit herangezogen, welche die an Schulter und
Brust gelegenen Muskeln entlastet, so daß von der Erschließung und Nutz¬
barmachung einer neuen Kraftquelle zur Erleichterung von Armbewegungen
im Folgenden gesprochen werden kann.
Es stellt sich ferner die Empfindung großer Leichtigkeit der Arme
und Hände, sowohl bei ihrem Heben, als auch bei ihrem Senken, ein. Dieses
Gefühl erklärt sich durch die infolge der Schulterblattsenkung eintretende