Tonninetrisclio Untersuchungen an einem deutschen Volksliede.
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intendierte Intervalle (Noten) zeigten ganz verschiedene Größe je nach
ihrer Stellung in der Melodie. Die Tabellen erweisen also deutlich,
daß wir keine absoluten Tonhöhen und keine Intervalle, Terzen oder
Quarten singen, sondern daß wir Melodien singen, in denen die Inter¬
valle nur künstlich herausgegriffene Melodieteile sind. Die Melodie ist
auch nach diesen Versuchen nicht als eine Reihe von Tönen odi r Inter¬
vallen auf zu fassen, sondern als eine einheitliche Gestalt, in der Beziehungen
von jedem Ton zu einer ganzen Reihe anderer Töne ein Flechtwerl: bilden.
Die von den Vpn. gesungene Melodie „Deutschland, Deutschland
über alles“ wurde von allen auswendig gesungen ; sie wurde gewählt,
weil sie allen Sängern von Jugend an geläufig, weil sie beliebt und stark
gefühlsbetont ist. Bei Vomhlattlesen unbekannter und ungewohnter
Noten ist die Einheitsauffassung der Melodie noch nicht vorhanden;
dort werden sicherlich viele Einzelintervalle intoniert, von Sängern,
die ein absolutes Gehör haben, sogar absolute Tonhöhen — doch auch
diese Intervalle und Tonhöhen sind oft nicht ohne psychische Beziehung
zueinander; denn der musikalische Blattsänger überblickt selbst bei
tien ungewohntesten Tonfolgen fast immer eine Gruppe von Noten als
ein Motiv oder einen Melodieteil: nur gelingt die Gestaltauffassung der
ganzen Melodie nicht so wie beim Auswendigsingen.
Es wäre interessant, eine Paralleluntersuchung über den Vomblatt-
gesang zu machen ; wahrscheinlich würden die Messungen dieser Phono-
gramme viel mehr sog. reine oder temperierte Intervalle zutage fördern,
da beim Singen des Einzelintervalls die durch Instrumentalmusik ge¬
übte Größe des Intervalls stärker ins Gedächtnis gerufen und nicht
stets durch Melodiebewegung gestört wird.
Für das Auswendigsingen sind also die Intervalle nur Symbole für
Melodieteile. Da die Größe* der Intervalle abhängt von der melodischen
Bedeutung, kann man aus der jeweilig gefundenen Intervallgröße Rück¬
schlüsse machen auf die geweblichen Einflüsse der Melodiebewegung
und anderer musikalischer Faktoren.
Von einer gewissen Wichtigkeit, die allerdings nicht an die Bedeutung
der Melodiebewegung heranreicht, ist das Festhalten der absoluten Ton¬
lage. des Xiveaus der Melodie. Aus der obigen Tabelle kann nichts über
die Niveaulage ersehen werden, wohl aber aus den Rohtabellcn, die ja
auch die absoluten Höhen jedes Tons in Schwingungszahlen enthalten.
Die Niveauveränderung einer Melodie hängt von verschiedenen Faktoren
ab. Im A-cappellagcsang finden wir oft ein Herabsinken der Tonhöhen,
das meist von einer Ermüdung «1er Kchlkopfmuskulatur herrührt.
Manchmal helfen sich Dirigenten mit einem homöopathischen Mittel
dagegen : sie transponieren ein Tonstück absichtlich einen Halbton
höher, damit durch die ungewohnte Anstrengung eine besondere Auf-
merksamkeitsspannung entsteht, die der Ermüdung entgegengerichtet