Tonometrische Untersuchungen an einem deutschen Volksliede.
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Die Werte 346 und 338 kommen auch sonst noch für die kleine Terz
vor, ohne daß an der großen Terz eine Korrektur vorgenommen worden ist.
Daneben kommen wieder Werte von 288 und 259 für die kleine Terz vor,
während die großen Terzen zwischen 310 und 420 schwanken. Bei diesen
starken Streuungen hat es keinen Sinn, Mittelwerte auszurechnen.
In 9 von 17 Fällen ist die kleine Terz größer als 330, in ebenfalls
9 von 17 ist die große Terz kleiner als 370. Meist wird also die Quinte
nicht nach Temperatur oder Konsonanz, sondern nach dem Distanz¬
prinzip geteilt; es wird ein ungefähr passender Mittelton gesucht; die
genaue Höhe dieses Mitteltons ist gleichgültig; die Hauptsache ist dem
Sänger, daß er unter Ansetzen auf einem Sprungbrett zur tieferen
Quinte gelangt. Die ideale Mitte trifft er hierbei nicht immer; sie wäre
350 C. ; in den meisten Fällen wird nur ein Ton getroffen, der dieser
Mitte näher liegt als den temperierten Werten.
Die Distanzgleichheit der Terzen (neutrale Terz) wird unbeabsichtigt
fast in jeder exotischen Gesangsmusik angewandt. Die Terz ist den
meisten Völkern eben ziemlich gleichgültig. Zum beabsichtigten Prinzip der
Musik und Instrumentalstimmung wurde die Distanz bekanntlich von
den Siamesen erhoben (vgl. Stumpf, Tonsystem und Musik der Siamesen.
Beiträge 1. 1901). Leider sind keine siamesischen Gesangsphonogramme
aufgenommen worden; es wäre interessant, ob bei den Siamesen Theorie
resp. Instrumentalmusik mit der Gesangspraxis zu einer größeren Über¬
einstimmung gelangt sind als bei uns in unserer 12stufigen temperierten,
theoretisch ja auch distanzgleichen Skala.
In der Durdreiklangverbindung wird also die kleine Terz zweifellos
bei uns vergrößert, die große Terz verkleinert. Dies steht nicht etwa
im Widerspruch zu Stumpfs Beobachtung über die Reinheitsbreiten der
Terzen. Stumpf fand (1. c. S. 113), daß von musikalisch Geübten eine
Verkleinerung der kleinen Terz der natürlichen Stimmung 5 : 6 vor¬
gezogen wird, und zwar besonders bei aufsteigender Tonbewegung.
Die Verkleinerung war aber bei weitem nicht so groß wie die der tem¬
perierten kleinen Terz. Bei seinen Versuchen mit der großen Terz
fand Stumpf eine Tendenz zu einer geringen Vergrößerung, die aber
auch nicht annähernd an die temperierte Stimmung reichte. Die kleine
reine Terz (316 C.) und die große reine Terz (386 C.) stehen ebenso wie die
Stumpf sehen, von ihnen nur wenig abweichenden Werte auch den von
mir gefundenen viel näher als die temperierten Terzenwerte. Ls kann
also ebenso gut bei Stumpf ein Kompromiß zwischen Konsonanz und
Temperatur stattgefunden haben wie in meinen Fällen ein Kompromiß
zwischen Konsonanz und Distanzgleichheit. \ or allem war aber die
Fragestellung bei Stumpf ganz anders ; sie war nach dem Reinheitspunkt
des Intervalls gerichtet, während ich überhaupt keine Aufgabe gestellt,
sondern praktische Musik aufgenommen hatte.
Psychologische Forschung. Bd. 4. -