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Sievers , Neues zu den Butzsehen Reaktionen.
der Einfühlung in das Objekt die in diesem Objekt sozusagen latent
nachwirkenden besonderen inneren (psychischen wie physio¬
logischen) Spannungszustände seines Urhebers in dem Beobachter
so hemmungslos wie möglich wieder wachgerufen werden können.
Ist das aber richtig (und ich zweifle daran nicht, nach einer großen
Anzahl einschlagender Versuche, die ich angestellt habe), so liegt
es auf der Hand, wie hervorragend schädlich für den Ausfall einer
Reaktionsuntersuchung es sein muß, wenn der Beobachter (und das
passiert ja gerade dem kritischen Wissenschaftler aus nahe¬
hegenden Gründen so oft) mit einer schon bestehenden eigenen
inneren Spannung an das Objekt herangeht. Eine derartige Eigen-
spanhung kann geradezu den Tod jedes Reaktions- oder doch
Beobachtungsvermögens bedeuten. Solche reaktionsfeindlichen
Eigenspannungen auszuschalten, wo sie auftreten, ist also eine sehr
wichtige Aufgabe für den Beobachter : aber freilich sind sie, wie die
Erfahrung zeigt, auch sehr zäh und nur mit großer Anstrengung
zu beseitigen, wenn überhaupt1).
Weiterhin ist hier nochmals zu betonen, was schon oben
mit bemerkt wurde, daß man das zu prüfende Objekt (also beispiels¬
weise einen Text oder ein Musikstück) als Ganzes auf sich
wirken lassen muß. Nur im größeren Ganzen summieren sich näm¬
lich die kleinen Einzelrèîzë, die freilich auch in jedem seiner Teile
liegen, derart, daß sie gute und deutliche Reaktionen hervorzurufen
imstande sind: jedenfalls bei demjenigen, der erst zu beobachten
anfängt. Manche der wirkenden Reize sind überdies offenbar nur
bei innerer Gebundenheit des Objekts überhaupt vorhanden, und
verschwinden demnach ganz, wenn man das Objekt in zusammen¬
hangslose Kleinteile zerlegt. Wer beispielsweise einen von seinem
Verfasser in einem Zusammenhänge (gewissermaßen legato)
gedachten Satz so einzeln Wort für Wort (gewissermaßen staccato),
ohne innere psychische Bindung, herunterliest, um etwa seine
Aufmerksamkeit besser auf das einzelne Wort oder auf die einzelne
Silbe konzentrieren zu können, raubt damit dem Texte gerade die
') In das Gebiet dieser Eigenspannungen scheint auch das m u s i -
karische Innenleben der musikalisch Veranlagten zu gehören.
Wenigstens ist mir von derartigen Versuchspersonen wiederholt erklärt
worden, sie „erlebten“ während des Gesanges, des Spiels usw. „innerlich“
zu viel, als daß sie gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf das Äußerliche der
Klangfarbe und ähnlicher Dinge zu richten vermöchten. Auch das mag die
Häufigkeit der oben S. 228 f. erwähnten Negativbefunde gerade bei Musikern
und andern stark musikalisch veranlagten Personen mit erklären helfen.