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Krafft, Die Beziehungen
Die auf optischen Erscheinungen beruhende Auffassung der
Sprache und die auf taktilen Bewußtseinsinhalten subtilster Art
sich gründende motorische Sprachfunktion in der Anwendung bei
unserem Lautsprachsystem verträgt keine Kompromisse und
Konzessionen ; sie trägt den Charakter eines künstlichen, aber durch -
aus einheitlichen Aufbaus an sich und verlangt unter zweckmäßigem
Ausschluß von Paralleleindrücken akustischen oder haptisch-ge-
bärdensprachlichen Lrsprungs eine vollständige Konzentrierung
des Lautsprachschülers auf die in den Sprechbewegungen sich
äußernden psycho-physischen V orgänge. Diese dem Lautsprach -
verfahren an sich innewohnende souveräne Stellung im Unter¬
richtsplane der Taubstummenbildung schließt folgerichtig auch die
von den Ohrenärzten geforderte Anwendung der Gebärde mit aller
Bestimmtheit aus. Alle Stürme, die gegen das Lautsprachsystem
entfesselt werden, von welcher Seite auch die Gegenströmung
ei folgen mag, rütteln an dem Grundbau unseres Lautsprach-
\erfahrens nicht mehr; die Stellungnahme der Vertreter des reinen
Lautsprachverfahrens ist auf gesetzmäßiger psycho-physiologischer
Grundlage auf das klarste vorgezeichnet und in unverrückbaren
Zielen festgelegt.
Bei aufmerksamer Verfolgung der ohrenärztlichen Bestre¬
bungen tritt immer mehr die Erkenntnis hervor, daß die Erfolge
einer Methode nicht allein an ihr selbst, sondern gleichzeitig auch
an dem I ntenichtsobjekt, dem Kinde, und seinen Fähigkeiten ge¬
messen werden müssen. In bemerkenswerter Bestimmtheit hat
dieser Auffassung Universitätsprofessor Dr. Passow dadurch wirk¬
samen Ausdruck gegeben, daß er die Errichtung der im Jahre
1902 eröffneten neuen Anstalt für gutbegabte Hörfähige bei der
badischen Regierung durchsetzte und damit die Trennung nach
Fähigkeiten zur Voraussetzung der Sonderung nach Hörgraden
machte. Die Trennung der Hörfähigen an sich bekämpfen wir
nicht; wir wenden uns nur gegen die Bewertung der Trennung nach
Horgraden im Vergleich zu der nach Fähigkeiten. Die unterricht-
hehen Leistungen der Taubstummen und der in ihrer Hörfähigkeit
herabgesetzten, den Taubstummen gleich zu achtenden Schwerhörigen
oder spater ertaubten Lautsprachschüler sind nicht ohne weiteres von
den Honesten, sondern in erster Linie von der Frage abhängig, in¬
wieweit sich noch etwa vorhandene Hörfähigkeit oder schon vor dem
Hörverlust erworbener Sprachbesitz mit der geistigen Befähigung und
der Energie des Kindes verbinden. Diese Feststellung ist nicht
neueren Datums, sondern eine alte, bereits aus der Praxis von