Das erste Harmonium-Konzert in Berlin.
Herr Wilhelm Tappert schreibt im Kleinen Journal Nr. 105 am
17. April 1898: Schon zwanzig Jahre lang ist ein hiesiger Musikalienhändler,
Carl Simon, bestrebt, das Harmonium im Hause einzubürgern, als gleich¬
berechtigtes Tonwerkzeug neben dem Klavier. Die wunderbare Wirkung im
Zusammenspiel mit anderen Instrumenten ist vielen unbekannt, sie glauben, das
Harmonium gehöre lediglich in die Kirche. Dass es auch in der Hausmusik
einen Platz haben müsse, um durch seine Vorzüge Mängel des Klaviers zu
ersetzen, leuchtet manchem nicht ein. Durch die Verbesserungen der letzten
Jahrzehnte hat das Harmonium in Bezug auf Tonschönheit, Farbenreichtum
und Ausdrucksfähigkeit überraschend gewonnen; eine reiche Litteratur ist
unterdes erschienen, wertvolle Original-Kompositionen und wirksame Bearbei¬
tungen. Als anerkannter Meister auf diesem Gebiete gilt August Beinhard.
Hauptverleger bleibt Carl Simon. Soviel uns bekannt, wurde in Berlin noch
niemals ein Harmonium als Konzert-Instrument gebraucht. Der 11. April
wird die Bedeutung eines Merktages erhalten, denn am 11. April trat
der Tenorist Herr Julius Gantzberg aus New-York auf und wurde in seinem
gut besuchten Konzerte u. a. durch Herrn Poenitz unterstützt, der aber nicht
wie sonst die Harfe, sondern — und zwar mit der Sicherheit und Geschick¬
lichkeit eines Virtuosen — das Harmonium spielte. Auch selbstschöpferisch
hat er seine Vorliebe für dieses Instrument bethätigt: eine Sinfonietta für
Harmonium, Violine und Cello, 8 Lieder für Tenor mit Harmoniumbegleitung
und „Traum im Walde“, Melodie für Violine und Harmonium, schmückten
das reichhaltige Programm. Die Hauptzierde bildete jedoch ein „Adagio und
Rondo, Originalkomposition für Harmonium und Klavier“ von C. M. v. Weber.
Das war eine wirkliche Novität und eine reizende dazu. Der Meister schrieb
dieses Gelegenheitsstück im Jahre 1811 für Kaufmann, den bekannten Erfinder
automatischer Musikwerke aus Dresden, welcher es am 13. Juni in München
zum erstenmale auf seinem „Harmonichord“*) mit Orchesterbegleitung vortrug.
Das prachtvoll klingende Vierspiel-Harmonium, dessen sich Herr Poenitz
bediente, war von Schiedmayer, auch der Konzertflügel, auf welchem Herr
Bruno Dehn das Orchester ersetzte. Webers Adagio und Rondo ist neuer¬
dings in verschiedenen Bearbeitungen, alle von August Reinhard her¬
stammend, bei Carl Simon gedruckt worden. Die köstlichen Melodien muten
uns zum Teil wie alte Bekannte an, sie klingen so frisch, als wäre seit ihrem
Entstehen erst eine kurze Spanne Zeit dahingegangen. Herr Poenitz be¬
herrscht das Instrument vollständig und enthüllte dem Zuhörer den ganzen
Reiz dieser anziehenden Antiquität. Der Konzertgeber selbst hatte mit Liedern
von Schubert, Überlee und Cornelius besonderes Glück. Seine Stimme ist ein
echter Tenor mit angenehmer Klangfärbung, die künstlerische Schulung des¬
selben zwar noch nicht beendet, aber doch so weit vorgeschritten, dass man
die besten Erwartungen hegen darf. Fräulein Helene Jahncke, die sehr
geschätzte Lehrerin, trug einige Lieder vor und erzielte mit Schubert’s „Nacht¬
stück“ einen bedeutenden Erfolg. Die Stimme ist nicht gross, doch wohl¬
gebildet, der Vortrag war geschmackvoll, die Ausführung sauber.
Das Berliner Tageblatt Nr. 185 vom 12. 4. 1893 sagt: Einen grossen
Genuss bereitete uns Herr Poenitz als Komponist. Seine Sinfonietta
A-moll, Op. 32, für Harmonium, Violine und Violoncell, namentlich in der
wohlgelungenen Wiedergabe durch den Komponisten und die Herren Julius
Nieselt und Sandow, erzielte mit seiner eigentümlichen Klangwirkung
einen grossen Erfolg. — Der Pianist, Herr Dehn, zeigte sich als ein
*) Ein Vorläufer des heutigen Harmoniums.
C. S. Ster.-Pl. Nr. 192a. (1894.)