V. Fleischl, Theorien der Farbenwahrnehmung.
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Denn wenn icli ein für rot ermüdetes Auge von einem grauen Licht
beeinflussen lasse, welches aus weiß und schwarz besteht, so wird
die rot-griine Sehsubstanz dadurch beeinflusst. Betrachte ich aber eine
Fläche, die grau ist, weil sie aus blau und gelb zusammengesetzt ist,
so wird das Grau auf meine rot-grüne Sehsubstanz nicht einwirken,
und es ist nicht der mindeste Grund dafür vorhanden, warum ich ein
grünes Nachbild sehen soll. Wenn man nun Versuche anstellt, so
sieht man allerdings, dass kein Unterschied in den Einwirkungen einer
wirklich grauen und einer aus blau und gelb gemischten Fläche be¬
steht, falls man die Flächen so einrichtet, dass sie in einer Linie an¬
einanderstoßen. Diese beiden Flächen werden zuerst ganz gleich grau
hergerichtet und dann werfen Sie auf diese beiden Flächen, da wo
sie aneinanderstoßen, den Teil Ihres Sehfeldes, auf welchem das
grüne Nachbild von einem roten Kreise erscheint, den Sie vorher an¬
gesehen haben. Dann sehen Sie, dass das grüne Nachbild über beide
Flächen in gleicher Weise weggeht. Das ist aber das Resultat der
Helmholtz’sehen Theorie und spricht wider die He rin g’sehe
Theorie. Hering hat auf die Einwände, die gegen seine Theorie
gemacht werden, noch nicht geantwortet; aber dies muss eben abge¬
wartet werden und es ist nicht ausgeschlossen, dass er einen Ausweg
und eine Verteidigung gegen diesen Einwand zu finden wisse; einst¬
weilen steht v. Kries’ Argument unangefochten da.
Ich komme nun zu den Abhandlungen, über die Macé und Ni-
cati in der französischen Akademie der Wissenschaften Vorträge ge¬
halten haben, welche in den Comptes rendus wiedergegeben sind und
zwar in den Berichten über die Sitzungen vom 27. X. 79; 31. V. 80;
11. X. 80; 27. XII. 80; 13. VI. 81.
Diese scheinen uns für die ganze Lehre vom Sehen der Farben
überhaupt außerordentlich wichtig zu sein. Unter Andern geht aus
ihren Versuchen ein Resultat hervor, welches ich mit den Voraussetz¬
ungen der Hering’schen Theorie für unvereinbar halten muss. Die
Art, wie diese beiden Herren ihre Versuche angestellt haben, ist so
einfach und überzeugend, dass sie geradezu als mustergiltig hinge¬
stellt werden kann. Zunächst stellten sie sich die Aufgabe, zu er¬
forschen, wie groß die Helligkeit ist, mit welcher wir die einzelnen
Teile des Sonnenspectrums sehen, und zwar haben sie sich zur Fest¬
setzung dieses Werts keiner complicirten photometrischen Methode
bedient, sondern die Helligkeit an dem gemessen, woran sie gemessen
werden muss, wenn sie zur Entscheidung in solchen Fragen benützt
werden soll — nämlich direkt an dem Auge. Sie haben die Seh¬
schärfe am normalen Auge bei Beleuchtung des Objekts mit verschie¬
denen Teilen des Spectrums gemessen. Sie haben die Sehschärfe,
welche ein normales Auge hat, wenn es einen Gegenstand mit dem
hellsten Teil des Sonnenspectrums, nämlich mit dem gelben, beleuch¬
tet ansieht, gleich 1000 gesetzt. Dann haben sie die Sehschärfe,