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Prof. Fr. Goltz:
Während Brächet ein brauchbares Experiment anstellte,
aber falsch verwerthete, hat der ihm an Geistesschärfe weit über¬
legene Engländer Marshall Hall treffliche Gedankenarbeit ge¬
liefert, aber zu wenig experimentirt. Marshall Hall*) spricht
es klar aus: „dass der Act der Zeugung vom unteren Theile des
Rückenmarks abhängig ist und zu den Reflexerscheinungen ge¬
hört.“ Hall hat keinen Versuch angestellt, .um diesen Satz zu
beweisen. Dafür hat er uns aber eine Krankheitsgeschichte
überliefert, aus welcher deutlich hervorgeht, dass auch beim
Menschen das reflectorische Centrum der Erection im Rücken¬
mark gelegen ist (a. a. O. S. 65). Ein Mann, der von einem
hohen Baum herabfiel, erlitt, wie die Section später ergab, eine
Verletzung des Halsmarkes. Er blieb nach diesem Unfall in der
unteren Hälfte des Körpers vollständig der Empfindung beraubt,
und der Wille hatte nicht den geringsten Einfluss auf die empfin¬
dungslosen Theile. Wenn nun bei diesem Kranken wegen
einer Harnverhaltung der Katheter eingeführt wurde, so
gerieth der Penis in einen vollkommenen Erectionszu-
stand. Gleichzeitig wurden die Schenkel angezogen und eine
hüpfende Bewegung ihrer Muskeln fiel dabei in die Augen.“
Man weiss nicht, ob man diesem Fall einen andern zur Seite
stellen darf, der von Brächet (Recherches etc. S. 280) mitge-
theilt ist und etwas zu unglaublich klingt. Ein ehemaliger Soldat
mit vollständiger Lähmung und Empfindungslosigkeit des Unter¬
körpers hatte nicht blos Erectionen, sondern zeugte sogar in
seinem traurigen Zustande zwei Kinder!
Ich selbst hatte Gelegenheit in der Klinik meines Freundes
Leyden hierselbst einen hierher gehörigen Fall zu sehen. Er
betrifft einen Knaben, bei welchem in Folge kyphotischer Ver¬
krümmung der Wirbelsäule das Rückenmark an einer Stelle der¬
artig zusammengedrückt ist, dass die Leitung durch diese Stelle
fast vollständig aufgehoben ist. Der Penis dieses Knaben be¬
findet sich andauernd in dem Zustand einer unvollkommenen
Steifung. Wird nun die Haut an der Innenfläche des Oberschen¬
kels etwas zusammengedrückt, so richtet sich die Ruthe voll¬
ständig empor und verbleibt eine Zeit lang in diesem Zustand, um
1) Marshall Hall’s Abhandlungen über das Nervensystem. Aus
dem Englischen von Kürschner. Marburg 1840, S. 36, 39, 74.