Das Rindenfeld der Sprache.
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welchen Aphasie durch linkseitige Läsionen entsteht, sich zu der An¬
zahl jener, in welchen rechtsseitige Erkrankungen vorliegen, verhält
wie 14,3 : 1, wobei bemerkt werden muss, dass, wie aus anderwei¬
tigen Zählungen hervorgeht, hier nicht etwa eine Täuschung vorliegt,
dadurch hervorgerufen, dass überhaupt mehr linksseitige Erkrankun¬
gen Vorkommen als rechtsseitige.
' Wir müssen diese Thatsache, welche nicht ganz zu den Vor¬
stellungen, die wir uns von den Rindenfunctionen im Allgemeinen zu
machen pflegen, passt, als solche hinnehmen, und finden nur eine
unvollständige Analogie in dem von Broca1 hervorgehobenen Um¬
stande, dass unsere linke Hemisphäre für mechanische Arbeiten ge¬
schickter und geübter sein muss, als die rechte. Deshalb eine un¬
vollständige Analogie, weil die direkten Innervationen der rechten
Hand eben einseitig von der linken Hemisphäre besorgt werden, die
Innervationen der Sprachmuskeln aber bilateral geschehen.
Doch lässt sich die Analogie bis zu einem gewissen Grade durch¬
führen. Fehlt in Folge von frühzeitigen Läsionen oder von Geburt
her das motorische Rindenfeld des rechten Armes, so üben die be¬
treffenden Individuen den linken Arm, d. h. die rechte Hemisphäre
für die mechanischen Arbeiten ein. Solche Fälle sind von Moneau,
von Kussmaul2 u. A. veröffentlicht. Aehnlich, muss man annehmen,
ist es mit der Sprache. In den beiden angeführten Fällen war das
Rindenfeld der Sprache auch von Kindheit an zerstört; dass diese
Menschen doch gut sprechen konnten, ist ungezwungen nur so zu
deuten, dass die Insel, unterste Stirn Windung u. s. w. der rechten
Hemisphäre die Sprachfunctionen übernommen haben.
In dieser Beziehung ist ein Fall, den Schwarz 3 mittheilt, von Inter¬
esse. Bei einem gut entwickelten, dreijährigen Mädchen trat in der Re-
convalescenz nach Masern plötzlich Sprachlosigkeit mit einer theilweisen
Lähmung des rechten Armes ein. Die Läsion lag also in der linken
Hemisphäre. Der Zustand besserte sich, doch musste das Mädchen ganz
von neuem sprechen lernen und verhielt sich dabei wie ein normales Kind,
das sprechen lernt.
Es hat also die linke Seite nicht das ausschliessliche Privile¬
gium, der Sprache vorzustehen.
Die Analogie geht noch weiter. Es scheint, dass sogenannte
linksseitige Individuen, die also im Gegensatz zu der Mehrzahl der
Menschen die rechte, nicht die linke Hemisphäre für mechanische
Arbeiten eingeübt haben, diese rechte Hemisphäre auch zur Sprache
1 Broca, Bull, de la soc. d’anthropol. Juni 1865.
2 Vergl. dessen Störungen der Sprache. S. 136 u. 145. Leipzig 1877.
3 Schwarz, Deutsch. Arch. f. klin. Med. XX.