174 Grützner, Physiologie der Stimme und Sprache. 6. Cap. Die Vocale.
und somit die Höhe, in welcher der Vocal gehört wird, bildet die Zunge,
die secundären aber hängen ab von der jeweiligen Länge der Ansatz¬
stücke. Längere Ansatzstücke erzeugen, wie die längere Feder die Vo¬
cale U. O, A, kürzere E und J. Der Scharfsinn, mit dem Willis durch
verhältnissmässig einfache, aber äusserst sinnreiche Methoden das Wesen
des Vocalklanges nahezu aufdeckte, ist im höchsten Maasse zu bewundern.
Wiederum einen bedeutenden Schritt vorwärts in der Theorie der
Vocale that Wheatstone; er ist es eigentlich, den man als den Begründer
der noch heut zu Tage gültigen Vocaltheorie ansehen muss.
In der leider wenig bekannt gewordenen Kritik der Versuche1 von
Kratzenstein, Kempelen und Willis führt Wheatstone aus, dass der
Vocalklang das Resultat einer sogenannten „multiplen Resonanz“
sei. Darunter versteht er eine Resonanz, das Mitschwingen einer Luft¬
masse, deren Eigenton nicht dem ursprünglichen Tone eines primär
schwingenden Körpers entspricht, sondern einer solchen, die 2, 3, 4 mal
etc. so schnell schwingt, als dieser. Gebe also beispielsweise eine Stimm¬
gabel oder die Zunge einer Maultrommel den Ton c, so wird nicht bloss
eine Luftmasse mitschwingen, die angeblasen ebenfalls c giebt, sondern
auch Luftmassen, die den Obertönen e', g" etc. entsprechen. Diese für
die Theorie des Vocalklanges fundamentale Thatsaclie, sowie der von ihm
zuerst geführte Nachweis, dass unsere Mundhöhle auf verschiedene Töne
abzustimmen sei,- indem eine vor sie gehaltene schwingende Stimmgabel
nur bei bestimmten Stellungen des Mundes in Folge verstärkter Resonanz
laut klinge, dann schliesslich die ebenfalls wichtige Beobachtung, dass
ein Vocalklang nur dann deutlich hervortrete, wenn ein relatives Ueber-
wiegen eines Obertones über den Grundton vorhanden sei, die vocale
Färbung dagegen verschwinde, wenn, wie bei den meisten Blasinstrumen¬
ten, der Grundton die Obertöne weit an Stärke übertreffe, alle diese
Thatsachen sind, wie man sieht, der Kern der heutigen Vocaltheorie.
Wheatstone selbst sprach sie etwa in folgenden Worten aus: Nicht
jede multiple Resonanz führt zu einem Vocalklang, wohl
aber sind die multiple Resonanz und die vocale Beschaffen¬
heit nur verschiedene Formen ein und desselben Phäno¬
mens.
2. Die jetzt herrschenden Ansichten über die Theorie der Vocale.
Obwohl die Bausteine, welche das Gebäude der Vocaltheorie
zusammensetzen konnten, schon seit lange geliefert, ja obwohl sie
von Wheatstone bereits zu einem stattlichen Bau vereint waren, so
wurden sie doch wunderbarer AVeise von Physikern und Physiologen
gleich wenig beachtet und bei Seite liegen gelassen. Es waren hier¬
halb zwei Männer, Donders und Helmholtz, welche in den fünf¬
ziger Jahren die schon früher bekannten Thatsachen theils von
Neuem entdeckten, theils sammelten und erweiterten. Auf ihren Un¬
tersuchungen basirt wesentlich die heutige Theorie der Vocale.
1 The London and Westminster Review. Octbr. p. 27. London 1837.