Litteraturbericht.
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eindringlichen Ermahnungen an die Psychologen, endlich gegenüber der
Frage des Doppel-Ichs von dem unfruchtbaren Theoretisieren zu lassen:
„Sicherlich müssen wir gegenwärtig der genauen Beschreibung des Einzel¬
nen den Vorzug geben vor einer meist mit erstaunlicher Kühnheit durchr
geführten Erörterung oberster Gattungsbegriffe“. Und dabei besteht die
Erweiterung seiner Broschüre fast ausschliefslich in einem sehr freien
Wirtschaften mit Hypothesen über absolutes und relatives Bewufstsein,
über die Identität von Empfindung und Bewegung, über die Entwickelung
des synthetisierten aus dem nieht-synthetisierten Bewufstsein u. s. w., auch
nicht ein einziger von diesen in den letzten vier Abschnitten behandelten
„Gattungsbegriffen“ ist aus einem zureichenden Thatsachenmaterial ge¬
wonnen. Da ferner der Hauptmangel der ersten Auflage des Doppel-Ichs
auch hier beibehalten ist, nämlich das Verfahren Dessoir’s die zahlreichen
naheliegenden anderweitigen Erklärungsmöglichkeiten neben der Doppel-
Ich-Hypothese so gut wie gar nicht in Betracht zu ziehen, so wird niemand
behaupten können, dafs die Frage des Doppel-Ichs durch die zweite Auf¬
lage der DESSoiß’schen Schrift weiter gekommen ist.
Meumann (Zürich).
Salgö. Noch einmal Paranoia and Schwachsinn. Allg. Zeitschrift für Psych.
Bd. 53. S. 897—912. (1897.)
S. bezeichnet als erstes, oft unbemerkt bleibendes Symptom der Paranoia
die initiale Einengung des Bewmfstseins, die Verarmung des Bewufstseins-
inhaltes. „Die intakte Intelligenz bedeutet erstens eine Summe von erwor¬
benen Elementen des psychischen Lebens, und zweitens die Möglichkeit
einer unbehinderten wechselseitigen Wirkungsfähigkeit dieser Elemente.“
Diese beiden Grundbedingungen geben zusammen erst den vollen psychischen
Mechanismus. Das freie unbehinderte Zusammenspiel aller derjenigen Ele¬
mente des psychischen Lebens, die durch zeitliche Kongruenz oder andere
gemeinsame Merkmale innere Gemeinschaft haben, — nennen wir Bewufst¬
sein. Alles was dieses freie Zusammenspiel hindert, führt eine Störung
des Bewufstseins herbei. Eine Einengung des Bewufstseins könnte herbei¬
geführt werden durch die gröfsere und herrschende Kraft eines Bewufst-
seinselementes oder einiger weniger („überwertige Ideen“), oder aber durch
die herabgeminderte Fähigkeit der Wechselwirkung der anderen Bewufst-
seinselemente. Die Einengung des Bewmfstseins wäre also entweder sekundär
oder primär. Salgö entscheidet sich, wenigstens auf pathologischem Gebiet,
für den letzteren Modus, d. h. die freie Wechselwirkung des übrigen Be-
wufstseinsinhaltes hat gelitten. Die Einengung des Bewufstseins ist eine
Folge der Herabminderung der wechselwirkenden assoziatorischen Kräfte,
die den psychischen Elementen innew'ohnen. Einengung des Bewufstseins
ist gleichbedeutend mit Verarmung des Bewufstseinsinhaltes. Die untere
Grenze der Einengung ist die Bewufstseinsleere, der Stupor, der nicht Folge
einer „Hemmung“ ist, sondern eine organisch bedingte Verarmung des Be¬
wufstseinsinhaltes. Vorübergehende Einengung des Bewufstseins kommt
oft vor, noch innerhalb der Breite psychischer Gesundheit. Z. B. wenn
einem eine Melodie nicht aus dem Kopf wrill, wenn man einen augenblick¬
lichen Erinnerungsdefekt nicht decken kann, einem ein Name u. dgl. nicht