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J. C. Keil.
Die wahre Kunst lange zu leben besteht also darin, daß
wir alle Organe verhältnismäßig und abwechselnd anstrengen,
und keins allein; daß wir sie nicht zu stark anstrengen, in ge¬
hörigen Zwischenräumen ihnen wieder Ruhe verstatten, keine
stärkeren Reize an wenden, als zur Erhaltung der Tätigkeit not¬
wendig ist; in betreff der Leidenschaften, Luft, Nahrung usw.
jedes Organ durch seine spezifische, ihm angemessene, und nicht
durch widernatürliche Reize in Bewegung setzen. Allein nicht
immer können wir dieses, und nicht immer wollen wir es.1)
Balnea, vina, Venus corrumpunt corpora nostra!
At faciunt vitam balnea, vina, Venus. Martial.
[157] § 24.
Krankheiten des tierischen Körpers.
Wie entstehen die Krankheiten des tierischen Körpers und
wie kann der Arzt sie heilen? Gewiß werden die meisten Ärzte
es sich eher Zutrauen eine Krankheit zu heilen als diese Frage be¬
stimmt zu beantworten. Und doeh kann ich behaupten, daß die
Auflösung dieser Frage von der größten Wichtigkeit für die
1) Die in den beiden letzten Paragraphen vorgetragenen Gesetze,
nach welchen die tierische Lebenskraft wirkt, sind in der Tat noch
sehr unbestimmt. Daher finden sich auch scheinbare Widersprüche
zwischen einigen dieser Gesetze. Alle Erscheinungen, die durch die
zuletzt angegebenen Gesetze bestimmt werden, sind lediglich Wirkungen
des Vermögens tierischer Körper, seine Kräfte durch sich selbst und
seine eigenen Handlungen zu modifizieren. Allein wir werden schwer¬
lich der Wahrheit eher näher kommen, als bis wir erst die Ursache
gefunden haben, durch welche tierische Körper dieses Vermögen be¬
sitzen. Dann können wir die Bedingungen und Regeln bestimmter an¬
geben, nach welchen dieses Vermögen wirkt. Dann haben wir den
[157] Schlüssel zur Naturlehre der Tiere, zur--gefunden. Wie süß
keimt unter der Menge der interessantesten physischen und chemischen
Entdeckungen unseres Zeitalters die Ahndung auf, daß wir vielleicht
diesem Zeitpunkt nahe sind. Wäre Brandis’ (a. a. O. S. 51—122)
phlogistischer Prozeß im tierischen Körper, der beständige Wechsel in
der organischen Materie, nicht etwa in den Lungen und in dem Blute
allein, sondern überall im Körper in jeder Fibrille desselben, durch
mehrere Tatsachen vollkommen erwiesen, könnte gleichsam jedes Organ
auf seine eigene Art, bald stärker, bald schwächer, und könnte es
andere Organe gleichsam nach einer bestimmten Regel entzünden ; wäre
dann nicht die große Veränderlichkeit der Erscheinungen tierischer
Körper weniger schwer zu erklären?