La Mettrie,
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Studie über Seneca drei Seiten voll entrüsteter Schmä¬
hungen auf den toten La Mettrie häufen zu sehen, der,
wie tief er auch an Begabung unter Diderot stand,
an unverstellter Geradheit des Charakters ihm sicher
gleichkam, an Folgerichtigkeit des Denkens ihn weit
Übertraf.
Diderot nennt schließlich La Mettrie l’apologiste
du vice et le détracteur de la vertu.37 Friedrich sprach
nicht viel von Tugend, denn in seinem Staate regierte
die Pflicht. Doch ist kaum glaublich, daß er zu seinem
täglichen Umgang einen Menschen sollte gewählt haben,
der die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft absichtlich
untergrub.
Wir brauchen uns also fortan nicht mehr mit Wider¬
willen abzuwenden, wenn wir im Geist auf der Terrasse
von Sanssouci, nach aufgehobener Tafel, bei länger
werdenden Schatten, Friedrich mit seinen Gästen lust¬
wandeln sehen, und aus dem wohlanständigen Geflüster
der Hofleute ein unbändig lautes Lachen die Gegenwart
des unverbesserlichen La Mettrie verrät Seien wir nicht
peinlicher, als der König selber, der sich vielleicht stirn¬
runzelnd umsieht, sogleich aber lächelnd im Gespräch
mit Voltaire fortfährt. La Mettrie hat nun einmal
schlechte Manieren, aber Friedrich weiß, daß in ihm
das heilige Feuer lodert, und von den verneinenden
Geistern um ihn her ist ihm dieser Schalk am wenigsten
zur Last.
Man mag La Mettrie’s Meinungen verdammen; nur
darf man ihn nicht stärker tadeln, als die heutigen Mo¬
nisten. Oder will man ihn deshalb stärker tadeln, weil
der heutige Monismus auf ihn sich zurückführen läßt,
s° gönne man ihm auch die Bedeutung, die ihm als
oberstem, wenn gleich etwas trübem Quell eines so
mächtigen Stromes zukommt.
Nach alledem haben wir uns La Mettrie’s, als eines
unserer Vorgänger, nicht so arg zu schämen. Ein
schulgerechter Philosoph, in dessen Kopfe die Welt
paragraphenweise sich spiegelt, wie sie sein könnte und
sollte, war er nicht. Dem Hafis näher verwandt als der
otoa, folgte er, ein Jahrhundert vor Heinrich Heine, dessen
Decker ‘Doctrin’: