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Über Geschichte der Wissenschaft.
Keine Art der Betrachtung scheint uns würdiger,
diese öffentlichen Zusammenkünfte einzuleiten. Im all¬
gemeinen ist unsere Zeit wissenschaftlicher Rückschau
wenig hold. Im stets wachsenden Drange des Tage¬
werkes, im Wettkampf mit immer sich mehrenden
Scharen von Arbeitern, in der Hast des I^ervorbringens,
in der Überstürzung eines Ehrgeizes, der mit dem Bei¬
fall des Tages vorlieb nimmt, weil er an wahrhaft
großen, nur durch langatmige Arbeit zu erringenden
Erfolgen verzweifelt: wie bliebe dem heran wachsenden
Geschlechte von Forschern noch Zeit und Lust zu künst¬
lerischer Pflege des Erzeugten, vollends zu sinniger Be¬
trachtung der Vergangenheit? Der Weg, den die Vor¬
fahren in der Wildnis wanderten, bis das fruchtbare
sichere Land sich öffnete, das wir bewohnen, ihre
Irrungen, ihre Mühsale, ihre Kämpfe werden mehr und
mehr vergessen. Kaum daß mit einigen von mythischem
Hauch umwitterten Namen noch eine unbestimmte Vor¬
stellung bei der Menge sich erhält, von wannen einst der
Zug der Halbgötter kam.
Aber fragt man, worin akademisches Forschen,
Wissen und Lehren von banausischem Treiben sich
unterscheide, so ist sicher dies einer der bezeichnenden
Punkte. Daß man wahrhaft nur das kenne, was man,
wenn auch nur im Geiste, werden sah, ist längst triviale
Wahrheit. Gleichviel, ob es um einen Organismus, ein
Staatswesen, eine Sprache oder eine wissenschaftliche
Lehre sich handle, die Entwickelungsgeschichte erschließt
am besten Bedeutung und Zusammenhang der Dinge.
Daraus scheint unmittelbar zu folgen, daß die beste
Art eine Wissenschaft mitzuteilen, Erzählung ihrer Ge¬
schichte sei. Auch liegt Richtiges in dieser Schlußfolge,
obschon ihre Anwendung notwendig beschränkt bleibt.
In den geschichtlichen Wissenschaften und den be¬
schreibenden oder vorzugsweise auf Beobachtung an¬
gewiesenen Naturwissenschaften tritt die aus inneren
Gründen vor sich gehende Entwickelung zu sehr zurück
gegen den Einfluß äußerer Umstände. Der Bau der
mathematischen Wissenschaften verwächst auf jeder Stufe
zu einem so innigen Gedankengefüge, daß die Spuren
seiner Entstehung fast ganz verschwinden. Weder dort