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J. Poirot, Die Phonetik.
2. Das Getast. Die eigentlichen Tastempfindungen geben wesentlich
nichts anderes als das Gesicht; nur kann man sagen, daß die Unterscheidung
der Spannungsgrade leichter mit dem Finger als mit dem Auge vorge¬
nommen wird.
Die subjektiven Muskelsinnempfindungen reichen dagegen bis ins Innere
des Mundes. Die Bewegungen des Unterkiefers geben zu fein abgewogenen
Gelenk- und Muskelempfindungen Anlaß, desgleichen die Lippenbewegungen,
worüber Kontakt-, Spannungs- und Bewegungsgefühl Auf¬
schluß geben. Am Munddach ist der vordere Teil des
harten Gaumens für Berührungen sehr empfindlich; diese
Empfindlichkeit scheint aber mit der Dicke der weichen,
zwischen Knochen und Schleimhaut liegenden Schicht
abzunehmen. Das Gaumensegel und die Pharvnxwände
sind bekanntlich stumpf. Was die Mundmuskulatur betrifft,
so ist der Vorderteil der Zunge, besonders die Spitze,
von einer außerordentlichen Empfindlichkeit, die durch
phonetische Übungen noch gesteigert werden kann; da¬
gegen sind der mittlere und der hintere Teil für Berüh¬
rungen und Lageempfindungen weit weniger empfindlich.
Die Mundbodenmuskulatur endlich hat eine ziemlich gute
Empfindlichkeit.
Daraus erhellt, daß der Anteil des Kiefers, der Lip¬
pen und der Vorderzunge an der Lautbildung durch den
Muskelsinn, und noch mehr durch die Kombination des
Getastes mit dem Gesicht gut zu bestimmen sind; da¬
gegen sind die Bewegungen der hinteren Teile des An¬
satzrohres mit den Beobachtungsmitteln schwer zu analy¬
sieren.
Experimentelle Untersuchung. 1. Photographische Methoden,
a) Einfache Photographie und Kinematographie des Ansatz¬
rohres. — Die Photographie der äußeren Teile des Ansatzrohres hat
sich in den letzten Jahrzehnten als Untersuchungs- und noch mehr, wie es
scheint, als Unterrichtsmittel eingebürgert. In französischen Lehrbüchern,
z. B. von Rousselot (46) und Zünd-Burguet (47), werden Photographien
der wichtigsten Lautartikulationen mitgeteilt. Sie sind aber nur von vorne
aufgenommen worden. Daß ein solches Verfahren ungenügend ist, liegtauf
der Hand. Prinzipiell richtiger ist es also, sowohl (womöglich zugleich) von
vorne wie im Profil zu photographieren. So hat z. B. Gutzmann (45) zur
Illustration seiner Arbeit über Lippenlesen Serienphotographien publiziert,
die in seinem Lehrbuch reproduziert werden (Proben s. Fig. 15). Der Versuch
erfordert nur, daß der Untersuchte eine Lautstellung einigermaßen festhalten
kann. — Statt der einfachen Photographie läßt sich auch die Kinemato¬
graphie anwenden; die Versuchsperson kann dann ledig sprechen. Die
Kinematographie hat den weiteren Vorteil, daß die Lautübergänge studiert
werden können. Nur muß man bedenken, daß das Originalbild sehr klein
ist, und daß das vergrößerte Bild immer an Schärfe verliert. Daher muß
man für die größtmögliche Schärfe des Originals sorgen. Von den Original-
. Fig. 15.
Photographie des deutschen
sch nach Gutzmann.