Volltext: Handbuch der physiologischen Methodik, Dritter Band, Zweite Hälfte: Zentrales Nervensytem, Psychophysik, Phonetik (3)

Die Analyse der Zeitvorstellung. 
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Diese Zeitschwelle für zwei nur zeitlich getrennte Reize entspricht in 
gewissem Sinne offenbar der Raumschwelle zweier nur räumlich getrennter 
Eindrücke, d. h. der Simultan-Raumschwelle. Bei dieser ist schon wegen 
der Irradiation für das Auftreten eines nicht bzw. anders ausgefüllten Zwischen¬ 
raumes nicht die Minimalschwelle zu erwarten, nach deren Überschreitung man 
allerdings schon die Lage der beiden an ihrer Grenze noch verschmolzenen 
Erregungen im ganzen in einem Bewußtsein der Ausdehnung unterscheiden 
kann. Wie diese Differenz aber dann eventuell bei sukzessiver Reizung 
zweier benachbarter Stellen deutlicher hervortreten kann, so wird auch die 
Auffassung eines minimalen Zeitunterschiedes erleichtert, wenn zwei benach¬ 
barte Stellen des nämlichen Sinnes, z. B. des Sehfeldes, sukzessiv erregt 
werden. (Vgl. S. 348.) Jedenfalls läßt sich das Bewußtsein einer Zwischen¬ 
zeit stetig unter sonst gleichen Umständen zum völligen Verschwinden 
bringen und, bei weiterer Verschiebung des Zeitpunktes des neuen Reizes 
in der nämlichen Richtung, in dasjenige eines Zeitabstandes in entgegen¬ 
gesetzter Richtung überführen, wenn beide Reize nicht auf die nämliche 
Stelle, sondern auf verschiedene Stellen oder als „disparate“ auf ver¬ 
schiedene Sinne einwirken. Die Ableitung einer Zeitschwelle für disparate 
Reize, unter denen hierfür wegen der präziseren Abgrenzung der Reize und 
Erregungen bisher wieder nur Gesicht, Gehör und Tastsinn in Frage kamen, 
wird in Anlehnung an den Herbartschen Begriff gewöhnlich als „Kom¬ 
plikationsversuch“ schlechthin bezeichnet. Dabei kann man, wie es bis¬ 
her immer geschah, Momentanerregungen, die sich von dem bisherigen Zu¬ 
stand abheben, im ganzen zueinander in Beziehung bringen, wobei dann die 
Zeitlagen des Anstieges und des Abklingens der durch einen Momentan¬ 
reiz hervorgebrachten Erregungen gleichmäßig berücksichtigt werden. Man 
kann aber auch nur Zeitgrenzen von länger dauernden Erregungen, 
die dabei natürlich ebenfalls möglichst präzise sein müssen, einander zu¬ 
ordnen. Bei dem letzteren Falle, der gegenwärtig im Leipziger psycho¬ 
logischen Institut untersucht wird, kommt also nur der Anstieg oder 
das Abklingen in Betracht, wobei sich wiederum für je zwei Reize 
vier verschiedene Möglichkeiten ergeben, je nachdem der Anstieg oder 
das Abklingen des einen und des anderen Reizes miteinander kombiniert 
werden. 
Da die Zeitabstände, in denen eine richtige und sichere Unterscheidung 
der beiderseitigen Zeitlage möglich wird, jederzeit noch in die Zeit eines 
einzigen psychischen Auffassungsaktes hineinfallen (s. S.361 ), so beschäftigt 
man sich bei den bisher genannten Versuchen offenbar mit einer ganz 
analogen Apperzeptionsleistung wie bei tachistoskopischen Beobachtungen. 
Dies muß vor allem bei der theoretischen Deutung der Aussagen berück¬ 
sichtigt werden: Die Urteile über die Zeitlage zweier benachbarter oder 
disparater Reize erlangen die Eindeutigkeit, die der Wiedergabe zugrunde 
liegt, immer erst auf Grund einer nachträglichen Verarbeitung des kurz¬ 
dauernd Wahrgenommenen. Selbst stärkere Anachronismen bezüglich zweier 
voneinander relativ unabhängiger Eindrücke, die nicht mehr auf Unter¬ 
schiede des Erregungsablaufes zurückführbar sind, brauchen also keines¬ 
wegs auf „halluzinatorischen“ Verschiebungen des Wahrnehmungsbildes 
gegenüber der Reizlage zu beruhen, wenngleich bei bestimmten Vor-
	        
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