Die Messung von Gedächtnisleistungen an der Menge frei reproduzierter Inhalte. 399
Hilfe von ihrem Stichreiz ans zu entwickeln und abzuschätzen ist. Wenn
aber die Disposition zur freien Wiedergabe einer ganzen Reihe eingeschätzt
werden soll, bei der die freie Reproduktion jedes weiteren Elementes nach
dem Stichreiz als „Sticherregung“ für die späteren Silben oder Zahlen funk¬
tioniert, kann die Leistungsfähigkeit aller Assoziationen natürlich
nur dann als hinreichend erschöpft angesehen werden, wenn alle
Elemente der alten Reihe einmal darauf hin geprüft worden sind,
ob sie nicht durch eine sogenannte „unmittelbare“ Assoziation
mit dem nächstfolgenden Glied, oder eine „mittelbare“ mit späteren
Gliedern eine Mehrleistung über das Maß hinaus auszulösen ver¬
mögen, auf das eine dieser „Hilfen“ entbehrende freie Wieder¬
gabe beschränkt wäre. Dabei wird das Mißverhältnis zwischen den
„primären“ *) und diesen „sekundären“ Treffern offenbar um so größer sein,
je längere Reihen auswendig hergesagt werden sollen, je mehr also bei
gleicher Wahrscheinlichkeit einer Stockung an irgendeiner Stelle von jenen
inneren oder Binnen-Assoziationen ungenützt bleiben muß.
Zur Erzielung der bestmöglichen Gesamtleistung wäre somit ähnlich wie
bei der S. 383 beschriebenen Methode der bloßen Wiedererkennung die
Abwicklung der ganzen alten Reihe, nur eben in einem freieren Tempo
erforderlich, bei dem die Y.-P. möglichst anstrengungslos das Auftreten des
nächsten Reihengliedes immer erst dann selbst auslöst, wenn sie es befrie¬
digend reproduziert hat oder die Hoffnung auf seine Reproduktion (bzw. auf
seine Verbesserung bei bloßer Unsicherheit) aufgegeben hat, wobei natür¬
lich zur Vermeidung der Uferlosigkeit1 2) des Versuches zugleich mechanisch
eine obere Grenze der Pause gesetzt werden muß. Als Maß der Gedächt¬
nisleistung wäre hierbei also schließlich wiederum die Zahl der Treffer
einschließlich der Teiltreffer anzusehen, die unter Mitwirkung dieser Hilfen
im ganzen zutage gefördert werden.
Das Prinzip dieses Verfahrens wurde zum ersten Male von Ebbing¬
haus zur Untersuchung des Einflusses der Wiederholungszahl angewandt3),
indem der Experimentator der V.-P. beim Hersagen die fehlenden Silben
einfach zurief. Er bezeichnete dies eben als sog. „Methode der Hilfen“,
die Witasek (a. S. 395 a. O.) sinngemäß noch durch die verschiedene Ein¬
schätzung der „Hilfen“ weiter auszubilden suchte, je nach den Fehlern, die
der Experimentator durch sein Einsagen korrigierte. Der oben erwähnten
Tafel der Fehlergewi chte entspricht also bei Witasek eine „Hilfengewichts¬
skala“. Die hiernach berechneten Gesamtsummen der Hilfeleistung bei jeder
Reihe lassen an einem von ihm mitgeteilten Beispiele (a. a. O. S. 180) des
1) Ob man zur Erklärung dieser ersten Hauptkategorie der „primären Treffer“, die
nach Darbietung des bloßen Keihenanfanges erreicht werden, noch des Begriffes eines
eigenen Beharrungsvermögens („Perseveration“) bzw. des „freien Steigens“ der Vor¬
stellung bedarf oder schon mit der bloßen Assoziation mit der Situation im ganzen und
dem weiterhin frei Erinnerten ausreicht, ist hier methodisch nur von sekundärer Be¬
deutung. Die Tatsache, daß bei einer experimentellen Auslösung des Gedächtnisprozesses
im allgemeinen stets zum mindesten eine assoziabile Gesamtsituation ins Bewußtsein
gehoben werden muß, sollte jedenfalls den Umfang der soeben an zweiter Stelle
genannten eigentlichen Assoziationen nicht unnötig beschränken lassen.
2) Vgl. G. E. Müller und Pilzecker, a. S. 391, A. 1 a. 0.
3) Mitgeteilt in seinen Grundzügen der Psychologie I, 1. AufJ. 1897.