Volltext: Handbuch der physiologischen Methodik, Dritter Band, Zweite Hälfte: Zentrales Nervensytem, Psychophysik, Phonetik (3)

Die Bestimmung von Reiz- und Veränderungsschwellen. 
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Mindestmaß des Unterschiedes zweier Reize, das diesen Unterschied ent¬ 
weder als solchen oder seiner Richtung nach erkennen läßt. Die Frage¬ 
stellung bei der Ableitung einer Reizschwelle gehört aber hiernach offenbar 
zu der Gruppe von Aufgaben, bei denen einzelne experimentell dargebotene 
Reize oder Reizkomplexe zu beschreiben sind. Diese haben wir schon vor 
dem Eingehen auf die Vergleichsmethode S. 233 genannt, aber auch sogleich 
als nur scheinbar einfachere Probleme hinter die Analyse der Vergleichs¬ 
prozesse zurückgestellt. Allerdings bildet die Ableitung einer Reizschwelle 
nur einen Grenzfall unter ihnen, da sich bei ihr die unmittelbare Beschreibung 
auf die bloße Konstatierung eines ebenmerklichen Reizes überhaupt reduziert. 
Doch ist jedenfalls auch bei ihr die Norm der Beurteilung, deren Funktion 
hierbei derjenigen der Wahrnehmung eines konstanten Normalreizes N bei 
den Vergleichsversuchen verwandt ist, ebenso wie bei allen Beschreibungen 
einzelner, für sich betrachteter Reize eine reproduktive Vorstellung, die von 
den früheren Wahrnehmungen der übermerklichen Stufen des Reizes her¬ 
stammt, dessen absolute Schwelle bestimmt werden soll. Nun wurde 
bei jener vorläufigen Erwähnung dieser ganzen Kategorie von Experimenten 
S. 234 bereits darauf hingewiesen, daß die Vieldeutigkeit, die sich aus dem 
rein reproduktiven Charakter der hierbei wirksamen Norm ergibt, ihrerseits 
selbst durch eine geeignete experimentelle Vorbereitung der V.-P. tun¬ 
lichst reduziert werden kann. Die entscheidenden Begriffe müssen also 
selbst bereits an der Hand eines geeigneten Wahrnehmungsmateriales 
systematisch eingeübt werden. Dies wird aber bei der Ableitung der Reiz¬ 
schwelle besonders einfach. Denn hier ergibt sich diese klare Vergegen¬ 
wärtigung der Norm in besonders natürlicher Weise aus der Darbietung 
übermerklicher, aber immerhin minimaler Reizstufen, wie sie ja bei der Ab¬ 
leitung der Schwellen durch Vollreihen ohnedies Vorkommen müssen. Die 
V.-P. lernt also unterdessen die entscheidende Qualität genau kennen; auch 
hat sie sich eventuell durch besondere, völlig wissentlich angestellte Ver¬ 
suche mit etwaigen Unterschieden der Nuancierung bei den verschiedenen 
Intensitätsstufen vertraut zu machen. Denn deren Inhalt kann sich hierbei 
bisweilen so sehr verändern, daß die V.-P. schwache Reize überhaupt nicht 
mehr als Stufen der zu konstatierenden Qualität wiedererkennen würde, 
falls sie sich nach ihrer landläufigen Bekanntschaft mit den deutlich über¬ 
merklichen Stufen sogleich in dem Unsicherheitsbereich zurechtfinden sollte. 
Durch eine solche systematische Einführung wird aber wohl schließlich jeder 
Beobachter, sofern er überhaupt die allgemeinen Voraussetzungen für wert¬ 
volle quantitative Versuche dieser Art erfüllt, der Schwierigkeiten überhoben 
werden, die vor allem Binet bei seinen Versuchen über die Raumschwelle 
des Tastsinnes in so ausgiebigem Maße entgegengetreten sind1), daß er an 
der Ableitbarkeit brauchbarer Schwellenmaße auf diesem Gebiete bei be¬ 
stimmten „Typen“ von V.-P. überhaupt verzweifeln zu müssen glaubte. 
Zunächst ist natürlich die absolute Schwelle für den komplexen Tatbestand 
einer räumlichen Extension schon an und für sich mit noch größeren 
Schwierigkeiten in dieser Hinsicht umgeben, als die Ableitung der Reiz¬ 
schwelle für einen einfachen Sinnesreiz, z. B. einen einfachen Tasteindruck 
1) La mesure de la sensibilité. Année psychologique. 1903. IX, S. 89.
	        
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