Die Bestimmung von Reiz- und Veränderungsschwellen.
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Mindestmaß des Unterschiedes zweier Reize, das diesen Unterschied ent¬
weder als solchen oder seiner Richtung nach erkennen läßt. Die Frage¬
stellung bei der Ableitung einer Reizschwelle gehört aber hiernach offenbar
zu der Gruppe von Aufgaben, bei denen einzelne experimentell dargebotene
Reize oder Reizkomplexe zu beschreiben sind. Diese haben wir schon vor
dem Eingehen auf die Vergleichsmethode S. 233 genannt, aber auch sogleich
als nur scheinbar einfachere Probleme hinter die Analyse der Vergleichs¬
prozesse zurückgestellt. Allerdings bildet die Ableitung einer Reizschwelle
nur einen Grenzfall unter ihnen, da sich bei ihr die unmittelbare Beschreibung
auf die bloße Konstatierung eines ebenmerklichen Reizes überhaupt reduziert.
Doch ist jedenfalls auch bei ihr die Norm der Beurteilung, deren Funktion
hierbei derjenigen der Wahrnehmung eines konstanten Normalreizes N bei
den Vergleichsversuchen verwandt ist, ebenso wie bei allen Beschreibungen
einzelner, für sich betrachteter Reize eine reproduktive Vorstellung, die von
den früheren Wahrnehmungen der übermerklichen Stufen des Reizes her¬
stammt, dessen absolute Schwelle bestimmt werden soll. Nun wurde
bei jener vorläufigen Erwähnung dieser ganzen Kategorie von Experimenten
S. 234 bereits darauf hingewiesen, daß die Vieldeutigkeit, die sich aus dem
rein reproduktiven Charakter der hierbei wirksamen Norm ergibt, ihrerseits
selbst durch eine geeignete experimentelle Vorbereitung der V.-P. tun¬
lichst reduziert werden kann. Die entscheidenden Begriffe müssen also
selbst bereits an der Hand eines geeigneten Wahrnehmungsmateriales
systematisch eingeübt werden. Dies wird aber bei der Ableitung der Reiz¬
schwelle besonders einfach. Denn hier ergibt sich diese klare Vergegen¬
wärtigung der Norm in besonders natürlicher Weise aus der Darbietung
übermerklicher, aber immerhin minimaler Reizstufen, wie sie ja bei der Ab¬
leitung der Schwellen durch Vollreihen ohnedies Vorkommen müssen. Die
V.-P. lernt also unterdessen die entscheidende Qualität genau kennen; auch
hat sie sich eventuell durch besondere, völlig wissentlich angestellte Ver¬
suche mit etwaigen Unterschieden der Nuancierung bei den verschiedenen
Intensitätsstufen vertraut zu machen. Denn deren Inhalt kann sich hierbei
bisweilen so sehr verändern, daß die V.-P. schwache Reize überhaupt nicht
mehr als Stufen der zu konstatierenden Qualität wiedererkennen würde,
falls sie sich nach ihrer landläufigen Bekanntschaft mit den deutlich über¬
merklichen Stufen sogleich in dem Unsicherheitsbereich zurechtfinden sollte.
Durch eine solche systematische Einführung wird aber wohl schließlich jeder
Beobachter, sofern er überhaupt die allgemeinen Voraussetzungen für wert¬
volle quantitative Versuche dieser Art erfüllt, der Schwierigkeiten überhoben
werden, die vor allem Binet bei seinen Versuchen über die Raumschwelle
des Tastsinnes in so ausgiebigem Maße entgegengetreten sind1), daß er an
der Ableitbarkeit brauchbarer Schwellenmaße auf diesem Gebiete bei be¬
stimmten „Typen“ von V.-P. überhaupt verzweifeln zu müssen glaubte.
Zunächst ist natürlich die absolute Schwelle für den komplexen Tatbestand
einer räumlichen Extension schon an und für sich mit noch größeren
Schwierigkeiten in dieser Hinsicht umgeben, als die Ableitung der Reiz¬
schwelle für einen einfachen Sinnesreiz, z. B. einen einfachen Tasteindruck
1) La mesure de la sensibilité. Année psychologique. 1903. IX, S. 89.