Volltext: Handbuch der physiologischen Methodik, Dritter Band, Zweite Hälfte: Zentrales Nervensytem, Psychophysik, Phonetik (3)

2 Wilhelm Trendelenburg, Das zentrale Nervensystem der warmblütigen Tiere. 
dieser Stelle zunächst eine allgemeine Kritik der Methoden zu geben, 
also zu untersuchen, inwieweit die zur Verfügung stehenden besonderen 
Maßnahmen diesen strengen Anforderungen genügen. Während sich diese 
Frage für die besten der vorhandenen Reizmethoden ohne weiteres bejahen 
läßt, ist die Sachlage für die Ausschaltungen so verwickelt und von einer 
je nach den besonderen Umständen so verschiedenen Komplikation, daß es 
unmöglich ist, hier eine erschöpfende Darstellung zu geben. Das mißlichste 
liegt darin, daß man gar keinen sicheren Maßstab dafür besitzt, nach dem 
ohne weiteres gesagt werden kann, ob in einem bestimmten Fall lediglich 
eine Ausschaltung erfolgt ist; wollen wir doch gerade durch den Eingriff 
erst erfahren, welches die Erscheinungen des Funktionsausfalls sind. Mithin 
kommt hier für das Urteil auch sehr viel auf die Gesamterfahrung des 
einzelnen an. Im ganzen möchte ich glauben, daß die unmittelbaren Reiz¬ 
wirkungen eines Schnittes eher überschätzt werden, besonders, wenn Reizungen 
angenommen werden, welche diejenige Zeitdauer überschreiten, nach welcher 
die Fasern, die gereizt worden sein sollen, schon der Degeneration anheim¬ 
gefallen sind. Sehr wichtig scheinen mir in dieser Hinsicht die von chir¬ 
urgischer Seite (Prince265)) gemachten Erfahrungen zu sein, daß nach Hinter¬ 
wurzeldurchschneidungen, die am Menschen zu bestimmten therapeutischen 
Zwecken vorgenommen wurden, der Patient schon nach dem Aufwachen aus 
der Narkose keine Schmerzen hatte; schon in dieser kurzen Zeit mußten 
also etwa vorhanden gewesene Reizwirkungen des Schnitts erloschen sein.*) 
Schnitte, Ligaturen und dergleichen werden also nur dann als Reizmethoden in 
Betracht kommen, wenn es sich nur um das Studium der schnell vorüber¬ 
gehenden Reizwirkungen handelt, und sie sind andererseits recht zuverlässige 
Mittel zur Ausschaltung, wenn der Versuchszweck es ermöglicht, diese vor¬ 
übergehenden Reizwirkungen vor der näheren Untersuchung abklingen zu 
lassen. 
Unter den weiteren Folgeerscheinungen der zur Ausschaltung dienenden 
Eingriffe kommt fernerhin der „Shock“ in Betracht, eine noch wenig analy¬ 
sierte Erscheinung, unter der wohl auch verschiedene Dinge verstanden 
werden. Soweit es sich dabei um Wirkungen starker, plötzlich einwirkender 
Reize auf lebenswichtige Teile (Gefäß-, Herzvagus-, Atmungszentrum) handelt, 
lassen sich diese Störungen am besten durch eine tiefe Narkose vermeiden, 
deren Wirkung wohl dadurch zustande kommt, daß sie die Erregbarkeit 
der Bahnen herabsetzt, so daß die genannten Reize sich nicht so leicht und 
so weit ausbreiten können; ferner setzt die tiefe Narkose den Blutdruck 
schon so weit herab, daß nun die Operationen am Zentralnervensystem keine 
so eingreifende Änderung im Zustand des Gefäßsystems mehr hervorrufen, 
als es bei weniger tiefer Narkose oder ohne dieselbe der Fall sein würde. 
Aber auch an den Teilen, deren Funktionsaufhebung durch den Ein¬ 
griff beabsichtigt war, können Folgen auftreten, deren Natur als reine Aus¬ 
fallserscheinung zweifelhaft sein kann, und die in der verschiedensten Weise 
bezeichnet und gedeutet worden sind, wiederum als Shock, als Isolierungs¬ 
veränderungen, als Diaschisis, und welche wrnhl von den Reizerscheinungen 
*) Daß der zitierte Fall durch vorher bestehende, peripher bedingte Schmerzen 
kompliziert ist, scheint mir in diesem Zusammenhang nicht von Belang zu sein.
	        
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