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Deutsche Baukunst. Die Gotik.
voller und origineller Motive bietet. Denn allmälig wird das anfänglich nur schüchtern
auftretende Maßwerk ein Tummelplatz für die Phantasie des Architekten. Man sucht
die Gliederung in jedem Fenster zu variieren, ist unerschöpflich in der Erfindung immer
neuer Kombinationen, die freilich in der guten Zeit jene Ausnahmen abgerechnet
wohl stets auf einfache Zirkelschläge zurückgehen. Das reichste derart Geleistete bietet
die Katharinenkirche zu Oppenheim, an der einzelne Fenster ganz mit Maßwerk über-
sponnen sind. Die Übergangszeit bereits hatte die Gliederung der Rundsenster durch
eingesehte, aus Dreiviertelkreisen gebildete, languettenartige Rahmenstücke gekannt. Die
Gotik legt diese, naä) der Zahl der verwendeten Kreissegmente Drei-, Vier-, Acht-
Päs s e genannten Figuren, gern in jeden Kreis. Die Spitzen dieser Pässe enden in der
guten Zeit bei reichen Bauten gern in einem Blatt, im Lilienmotiv; später fällt dies
weg. Dafür wächst allmälig die Vorliebe für Verwendung flacher, an die Kurven
gelegter ,,Nasen", eigentlich kleiner Segmente der Pässe (vergl. Fig. 186s")). Bald bildet
dieses Nasenwerk nicht nur die Füllung aller Kreisbildungen, sondern wird auch der
treue Begleiter jedes SpiHbogens. Als solcher ist es seit der Frühzeit des vier-
zehnten Jahrhunderts im Maßwerk hei1nisch.
Die Lust an spielenden Motiven, an verschlungenen Formen und lebhaft bewegten
Doppelschwingungen erzeugt um die Wende des fünfzehnten Jahrhunderts endlich im
Maßwerk als neues Hauptmotiv der Bogenfüllung die Fischblase" (vergl. Fig. 186 8),
welche an Stelle der älteren Pässe tritt. Zuletzt artet dies Spiel mit Linien in barocken
Übermut aus, wie am Chor des Münsters zu Freiburg, wo sogar der umrahmende
Spit;bogen schief siht, oder es tritt nach all der Überfülle auch hier die Ernüchterung
ein, gerade Linien treten auf, wie am Dom zu Meißen, oder das Maßwerk wird
überhaupt wesentlich eingeschränkt und ernüchtert. Jm Backsteinbau ist es überhaupt
nie zu reicher Ausbildung gelangt.
Schon seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts tritt die wachsende Neigung
hervor, das Maßwerk als Blenddekoration auch auf die Wandsläche zu übertragen
oder doch dieselbe durch aufgelegtes Stabwerk zu gliedern. Es ist die Kölner Schule,
welche diese Richtung am frühesten in Deutschland entwickelt; ihr folgt dann ziemlich
gleichzeitig die Straßburger und bald das ganze Land (vergl. Fig. 185).
Über den Spit;bogen der Fenster steigen bei reichen Bauten die ,,Wimperge"
(Windbergen) auf, steile Giebeldreiecke, welc)e in ähnlicher Weise wie die Dachgiebel
mit Leistenwerk dekoriert werden. Jhre Scl)rägen sind mit jenem aufsteigenden Blatt-
werk beseYt, welches wir heut zumeist ,,Krabben" nennen, während die alte Zeit den
passenderen Namen ,,Laubbossen" dafür kannte. Das Akroterion der SpiHe bildet
die ,,Kreuzblume". Das älteste Beispiel dieser Wimperge dürfte die Ste. Ehapelle zu
Paris, ein Bau des Meisters Pierre aus Montreuil (beg. 1245), bieten. Von dort
erst kommen sie nach Deutschland, wo sie die ziemlich gleichzeitig mit jenem französischen
Bau begonnenen Chorteile des Doms zu Köln (1248) noch nicht kennen. Erst im
Verlauf der nächsten Jahrzehnte treten sie dort auf. Älter als die Wimperge sind aber
ähnliche Formen an den Baldachinen, welche schon in der Übergangszeit gelegentlich
das SchuHdach für Statuen abgeben; und diese wieder verdanken ihre Entstehung
offenbar den Giebeln über den einzelnen Polt)gonseiten der Chores, wie wir sie u. a.
zu Sinzig, Münstermaifeld, Gelnhausen kennen gelernt. Dies dürften die Etappen
für die formale Bildung der Wimperge sein.