.Tizian.
K m südöstlichen Ausgang des Ampezzotals, unweit der Grenze zwischen
so. U Friaul und Tirol, liegt das Städtchen Pieve di Cadore. Die ganze
sT.J4 s Erhabenheit des Hochgebirges umgibt den Ort, über ihm ragen die
C seltsamen Niesenzacken der Dolomiten zum Himmel empor, unten windet
sich im engen Tal die reißende Piave südwärts, an deren Ufern sich von alters
her der kürzeste Verkehrsweg zwischen den Hochalpen und Venedig entlang zieht.
Die Landschaft Cadore, deren Hauptort Pieve ist, hat im Wechsel der Zeiten
bald zum Deutschen Reich, bald zum Patriarchat von Aquileja gehört, bis sie
im Jahre 1420 der Republik Venedig einverleibt wurde.
Jn einer der Gassen von Pieve di Cadore steht das durch eine Inschrift:
tafel kenntlich gemachte Haus, in dem der große Meister der venezianischen Maler:
schule, der größte Farbenkünstler Italiens überhaupt, Tiziano VecelIio, im Jahre
1477 geboren wurde.
Die Forschung hat die Abstammung des Malers weit hinauf verfolgen können.
Im Jahre 1321 wählten die Cadoriner einen Herrn GuecelIo, Sohn des Tommaso
von Pozzale, zu ihrem Oberhaupt. Solch ein gewählter Vertreter der Stadt und
ihres Gebietes leitete an der Spitze des Rates das kleine Staatswesen fast gänz:
lich unabhängig von dem Burgvogt, der als Beamter des Lehenträgers des Patri:
archen von Aquileja in dem neben der Stadt errichteten Kastell saß. Der Name
jenes Guecello wiederholte sich unter seinen Nachkommen und gab schließlich dem
ganzen Geschlecht die unterscheidende Benennung, die zum Familiennamen wurde.
Das Geschlecht wurde als das der Guecellier bezeichnet, und jedes Mitglied des:
selben fügte schließlich diese Bezeichnung seinem Taufnamen bei. Nur hatte sich
die Schreibweise in der Zeit, in welcher Familiennamen gebräuchlich wurden,
verändert: das anlautende Gu, durch das im mittelalterlichen Latein, und so auch
im Jtalienischen, häufig der Laut des deutschen W wiedergegeben wurde z. B.
Ciualterus, Guill1e1mus, guer1sa war durch das der italienischen Zunge ge:
läufigere V erseht worden. Die Nachkommen des GuecelIo schrieben sich Vecellio
anstatt Guecellio; oder, in der Mehrzahlform, die im eigentlichsten Sinne als
Familienname anzusehen ist, da sie nicht auf den einzelnen, sondern auf die Ge:
samtheit hinweist: VecelIi.
Den Taufnamen Tizian trugen viele Mitglieder der Familie Vecelli. Namens:
patron ist ein außerhalb des venezianischen Gebietes kaum bekannter Kirchen:
heiliger, der Bischof Titianus von Qderzo, dessen Gedächtnis in der Gegend von
Cadore in dem Namen der Ortschaft S. Tiziano im Gaimatal am Fuß des
Monte Civetta fortlebt. Heute denkt bei dem Namen Tizian nicht leicht jemand
an eine andere Persönlichkeit, als an den großen Maler aus dem Hause der
Vecelli.
Die Vorfahren dieses Tizian waren von dem Ahnherrn GuecelIo an in vier
aufeinander folgenden Geschlechtern Nechtsgelehrte und dienten ihrer Heimat in
hervorragender Weise. Der fünfte in der Reihe, Gregorio Vecellio, war des
Künstlers Vater. Von ihm wird berichtet, daß er ,,ebenso durch seine Weisheit
im Rate von Cadore, wie durch seine Tapferkeit im Felde sich auszeichnetets;
gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wurde er zum Befehlshaber der Wehr:
mannschaft von Pieve ernannt, und als im Jahre 1508 die Landsknechte Kaiser
Maximilians durch das Ampezzotal in das venezianische Gebiet eindrangen, hatte
er riihmliche Gelegenheit, seine Kriegstüchtigkeit zu bewähren. Tizians Mutter
Lucia gehörte ebenfalls dem Geschlecht der VecelIi an. Tizian wurde im Alter
von neun Jahren zu seiner Ausbildung nach Venedig gebracht, zu einem dort
wohnenden Oheim. Ob von vornherein die Absicht bestand, ihn der Kunst zuzu:
führen, erscheint fraglich. über ein Geschichtchen, das überliefert wird, der kleine
Ist