Braunschweig, den 27.Februar 1902.
In Wolffenbüttel hatte ich vor der Ofsnung der Bibliothek
heute früh noch Zeit, den Eindruck der Stadt aufzufrischen. In
der Erinnerung war mir Von einem ersten Besuch vor zwanzig
Jahren ein armseliges Nest geblieben, schmucklose Fachwerkhäuser
um ein Schloß, eine Bibliothek und eine Kirche. Diesmal war
der Eindruck grundverschiedeu. Was uns vor zwanzig Jahren in
erster Linie anzog, die lustige Ornamentik an Stützen und Balken,
ist uns heute ziemlich gleichgültig, was wir damals noch nicht
begriffen, die Monumentalität auch des einfachen Nutzbaus äl-
terer Epochcn, zieht uns heute mit Macht an. Und in diesem
Punkt hat Wolsfenbüttel Charakter.
Mit dem Eindruck der Physiognomie Braunschweigs im Auge,
fühlt man Wolfsenbüttels Eigenart besonders stark. B:-aunschweig
ist eine Bürgersiadt. Jedem Haus sieht man an, das hat ein
Mann gebaut, der nicht zu fragen brauchte, der keine Rücksicht
zu nehmen hatte. Er konnte seinem Haus so viel Schmuck an-
hängen wie seinem eigenen Körper. Es ist eine dem Charakter
der Bewohner entsprechende individualistische Architektur. Etwas
vom Typus kommt nur durch die Bedürfnisse des Gewerbes oder
die allgemeine Ornameutmode der Zeit hinein. Unschematisch
wie die Häuser sind die Straßen, die ohne Rücksicht auf Lineal
und Winkelmaß den Lauf alter Feldwege und die Krümmungen
alter Fahrsiraßen beibehalten.
Wolsfenbüttel dagegen ist eine Fürstenstadt, wenn--auch nach
so klein und bescheiden. Jndioidualistisch ist die Architektur nir-
gend als in den fast unterdrückten Reiten der ersten Siedelang
mit ihren krummen Straßen und ihrer taumeligen Straßen-
flUtbt. -Hier findet man stellenweise auch den Versuch einer bunten
Holzornamentik. Soweit der Einfluß des Fürsten das Stadtbild
bedingt, herrscht das typische Wolfsenbüttler Haus, ich möchte
T