Ursprung des Uebel6.
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Wie er die zweite Frage erledigt, haben wir bereits angedeutet; aber
auch unsere ganze bisherige Darstellung ging darauf hinaus, den Zusam-
menhang der wachsenden Entfittlichung mit dem Untergange der Welt als
den Gesichtspunkt nachzuweisen, welchen die Sehr-rin der Wölufpa von
Anfang an festhält und bis zu Ende durchsührt, wie es freilich die deutsche
Mythologie, welche die Wöluspa in der Kürze zusammenfaßt, überhaupt
thut, so daß er als ihr leitender Grundgedanke anzusehen ist. Darum
scheint es mir nicht zu kühn zu sagen, dnsz wir nächst der Germania des
Tacitus kein schöneres Denkmal der sittlichen Herlichkeit unseres Volkes
besi3eu, als die Edden nnd namentlich die Wöluspa.
Einige möchten das Bewustsein der deutschen Götter von ihrem künf-
tigen Untergange so deuten als hätte der heidnische Glaube seine eigene
Unzuliinglichkeit gefüllt und die Ahnung, daß seine Götter fallen nnd dem
Christengotte weichen mästen, in der Dichtung non dem legten Weltkampfe
ausgesprochen. Aber so gern ich anerkenne, daß der heidnische Glaube
dem Christenthume gegenüber unzulänglich ist, so kann ich doch ein Be-
wustsein davon dem Heidenthume nicht beimessen. Es würde ja dann die
WiedergebUrt der Götter nicht behauptet und den Kampf gegen die zer-
störenden Mächte zur .Hauptthätigkeit der Götter gemacht, ja die Unter-
fküs3ung der Götter bei diesem Kampf zur religiösen Pflicht der Menschen
erhoben haben. Ein Gott der Erinnerung wie Widar, der Göttern und
Menschen ein neues reiner-es Dasein erkämpft, bliebe bei solcher Voraus-
sex;ung ganz unbegreiflich. Läßt doch auch das Ehristenthun1 selbst in der
Ankündigung des Antichrists für eine kurze Zeit die Mächte der Unterwelt
den Sieg gewinnen ehe das ewige Weltreich anbricht. Die Dichtung von
dem Untergange der siindigen Götter und ihrer Wiedergeburt in der er-
neuerten, entsühnten Welt ist vielmehr ein Versuch, das große Problem
von dem Ursprung des Uebels zu lösen, das auch in andern Mytho-
Iogieen zu den tiefsinnigsten Dichtungen Veranlassung gab. Um diese Frage
dreht Ach eigentlich Alles, sie ist auch bei uns der Hebel, der das ganze
Götterdrama in Bewegung setzt. Worüber die Philosophen von jeher die
Köpfe zerbrachen, auch den dichtenden Volks?-geist hat es frühe beschäftigt.
Das Uebel ist nicht ohne Schuld der Götter entstanden; aber sie werden
diese Schuld im lehten Kampfe sühnen und dann eine neue, bessere Zeit
kommen nnd schuldlose Götter die wiedergeborene Welt beherschen. Wie
wenig uns diese Lösung befriedigen möge, ehe das Ehristenthnm in die
Welt kam war eine bessere schwer zu finden.