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Gottfried
Semper.
gethiir111t mit einer Kühnheit, die uns den ganzen Triumph
der vollendeten Herrschaft der Kraft über die rohe Materie
mitfühlen läßt, so spricht uns hier aus jedem Bauglied die
Feinheit eines hochgebildeten Geistes, der sich im anmuthigsten,
heitersten Formenspiel scheinbar völlig gehen läßt und doch
alles Einzelne aus einem großen Gedanken heraus organisch
entwickelt.
So wohlthätig er aber auch wirkte, bald aus Nativiss
mus, bald aus sonstigem Unverstand oder wohl auch aus
Rohheit geschah es ihm in der Schweiz, daß man wiederholt
seine schönsten Pläne unausgeführt, oder sie wohl auch durch
Andere beniit3en ließ. Besonders zu bedauern ist, daß das
schöne Projekt für einen großen Gasthof in Ragaz nicht zur
Ausführung kam, so wenig als das einer kleinen protestanti:
schen Kirche in Winterthur, eines bramantesken Rundbaues
mit Flachkuppel von unvergleichlich ernster An1nuth. Um
so reizender wurde das dortige Rathhaus, das er ganz im
griechischen Styl baute, ein wahrer Juwel von seiner Grazie,
der allein schon einen Besuch dort lohnt, wenn er auch unter
seiner prosaischen Umgebung gar sehr aussieht wie ein Mäds
chen aus der Fremde. Um jene Zeit entstund das schöne
Projekt eines Theaters für Rio Janeiro, welches das Motiv
deß Dresdener viel reicher ausbildend, eine außerordentliche,
fast exotischsüppige Pracht zeigt. Auch publizirte er nun den
zweiten Band seines ,,Stylt7 und jene klassiehe Abhandlung
,,über den Schmuck und dessen Bedeutung als Kunstsyn1boltt,
die beide allerdings schon in London entstanden waren.
Den Fluch des Architekten, daß so oft gerade seine herrs
lichsten Entwürfe nicht zur Ausführung kommen, sollte Semper
indeß erst noch bitter erfahren. Der junge König Ludwig 1l.