Lotto.
Lorenzo
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Während wir sonst das Italien des Cinquecento nur
aus Bildern repräsentierender Männer kennen, malt Lotto
Arbeiter des Geistes, eine Menschheit, die in Denken und
Fiihlen uns näher steht. Die dekorative Erscheinung ist ihm
gänzlich gleichgültig. Er zeigt sie nicht, wie sie in der Welt
sich bewegen, sondern wie der Mensch ist in jenen Stunden,
wenn er Einkehr in sich selbst hält. Und er beschränkt sich
nicht darauf, in ihren Mienen zu lesen, ihnen wie ein Beicht:
vater alle Geheimnifse zu entlocken. Oft ist es, als wollte
er ihnen Ratschläge erteilen, sie beschwören und Warnen: so
wenn er dem Jüngling der Borghesegalerie einen Toten:
schädel unter Rosen: und Jasn1inbläItern beigiebt oder auf
dem Bilde des nervösen Mannes der Galerie Doria eine
Grabplatte anbringt und darauf das Lebensalter des Darge:
stellten ,,38H wie die Jnschrift eines Leichensteines notiert.
Das Weib ist der Vampyr, der den Männern das Lebens:
mark aussaugt. Dieser Gedanke scheint durch seine Gruppen:
bilder zu gehen. Man betrachte etwa auf dem Londoner
Werk das messalinenhaste Weib mit dem harten kalten Blick,
und daneben den bleichen Mann mit den zitternden Händen,
der so reAgniert, so müde vor sich hinschaut.
Das wunderbare Bild des Palazzo Rofpigliosi, das
wohl mit Unrecht der Triumph der Keuschheit genannt
wird, steht am Ende dieser ruhigen Schaffenszeit, die er in
Bergamo verbrachte. Fünfzig Jahre ist er alt geworden und
hat noch so wenig gesagt von dem, was den Jüngling durch:
zitterte. Er muß die Welt wiedersehen, sich unterrichten
über das, was dort die Künstler bewegt. So macht er sich
auf, zieht eine Zeit lang in den Marken umher, ist 1527 beim
Sacco di Roma in der ewigen Stadt und kommt 1529
nach Venedig.