einer bureaukratischen Zweiturmfassade, sondern als Form einer
ungeheuren, viele Menschen mnfassenden Empfindung. Und da zu
gleicher Zeit, als die Stellung dieser Aufgabe denkbar geworden
wäre, nicht zuletzt durch die Arbeit einer Geistlichkeit, die ihren
wahren Beruf erkannt hätte, die drückende Last der Gymnasie-
kratie, die auf den Massen lastet, dieser mehr und mehr ge-
nommen wäre, sie also wieder schaffensfroh und produktiv sich
selbst empfinden könnte, so fiele die Stellung der neuen Auf-
gabe vielleicht schon mit der Wiedergewinnung alter Volkskunst-
triebe in Eines zusammen. Eines würde dem anderen Nah-
rung geben, um zum ersten Male nach langer Zeit einen Bau zu
ermöglichen, der über den Menschen steht, sie wie ein Magnet
aufwärts zieht und selbst wieder beiträgt, die große Mensch-
heitsform zu errichten. Da könnte also wieder der Architekt
als der Vertrauensmann Ungezählter bauen, nicht mehr mit der
Reißfeder auf Papier, sondern aus den Mauern. die eine mit-
arbeitende Masse aufführt, schichtet und schmückt, und in den
wachsenden Bau stellen sich die Plastiker ein und die Maler,
und auch diese lernen zuerst wieder den Zustand kennen, den
seit Grünewald kein deutscher Künstler mehr gekannt hat: frei
zu sein von dem furchtbaren Zwang, etwas erfinden zu müssen.
Nicht mehr Erfindung heißt es jetzt, sondern Empfindung, nicht
mehr Problem und Motiv, sondern Ausdruck und Mitteilung.
Alles hat in dem neuen, großen, von Jahr zu Jahr wachsenden
Werke Raum: die süße Lyrik Weihrauch im Innern, an
Tagen des Festes durch die Hallen und Kapellen wallend, un-
endlich zartes Mutterglück in den Altarbildern, köstliche, innige
Gesichter von Jungfrauen, die Portal und Tympanon zieren, Lie-
der, die klingen, anschwellen und verhallen, und das helle strö-
mende Himmelslicht, das durch bunte, gläubig glühende Scheiben
um die steinernen Formen spielt. und von hier aus bis zu der
gesteigerten Architektonik der Formen, in denen alles Irdische
schweigt und nichts ist, als die stumme, verhaltene Weltenan-
dacht von Tausenden von Menschen, die. einer gleich dem an-
deren, ein Gefühl der letzten Hingabe an das Höchste vereint.
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