2IO Fünftes Buch zweites Kapitel.
verstandenen perspektivischen Rezept t konstruierter Einblick in einen
Kirchenchor. Auf allen übrigen Bildern wird die räumliche Umgebung,
ganz oder nahezu ganz, unterdrückt, um so stärker jedoch die plastische
Tiefendimension betont. Die Umrisse sind starr und unbewegt, keine
Spur von gotischer Kurvatur. Es sind Gestalten wie von Stein; sie tragen
ihren Körper wie eine schwere Last, und schwer ist auch ihr Gemüt, in
sich gekehrt, nur im Blick und in den gespannten Mienen ein verhaltenes
Feuer; wer sie einmal gesehen hat, vergißt diese sehr persönlichen
Schöpfungen nicht wieder. Alle für den Tucheraltar wesentlichen
Eigenschaften kehren wieder auf demuEpitaph des Kanonikus Ehenheim
in der Lorenzkirche (Abb. 448). In dem gepreßten Nebeneinander dieser
vier Figuren und der Tautologie ihrer, vom Standpunkte der Gotik beur-
teilt, ganz ungeschickten Haltung liegt etwas eigentümlich Schlagendes,
und imponierend darf man es nennen, wie Christus, an die Seite gerückt
und einer gegen drei, doch durch die bloße Macht seiner Erscheinung, den
andern das Gleichgewicht hält. Eine schwere und reiche Färbung, sehr
entgegensetzt den lichten, bunten Idealtönen der älteren Zeit, vollendet
den ernsten Eindruck. Es würde uns zu lange aufhalten, den Nürn-
berger Bildervorrat aus den vierziger und fünfziger Jahren weiter zu
durchmustern. Nur ein Bild aus dem nahegelegenen Kloster Heilsbronn
können wir nicht übergehen, weil es einen dem Tuchermeister eben-
bürtigen, doch wesentlich anders gestimmten Künstler uns kennen
lehrt. In dem hohen Wuchs, der freien und stolzen Haltung dieser Schutz-
mantelmaria gehen gotische Erinnerungen mit dem neuen Lebensgefühl
eine so glückliche Verbindung ein, wie man es hie und da noch bei den
Glasmalern, aber nicht mehr unter den bürgerlichen Tafelmalern wieder-
findet (Abb. 449).
In der Plastik vollzog sich der parallel laufende Stilwechsel in
weniger heftigen Ausschlägen und mit beschränkteren Zielen, als in der
Malerei; eine große Menge kleiner Beobachtungen müssen zu seiner Ana-
lyse zusammengetragen werden; leider fehlen auch ganz die chronologi-
schen Stützpunkte. Im ganzen läßt sich aber folgendes sagen: Die kind-
liehen Proportionen, die losen Gelenke, die schaukelnde Haltung und
überhaupt die ganze tändelnde Zierlichkeit, durch die die ersten Jahr-
zehnte des 15. Jahrhunderts charakterisiert waren, sind weg; von 1430
ab stehen die Figuren sehr fest auf ihren Beinen, meist mit ziemlich
gleicher Belastung beider, so daß Haltung und Umriß weit einfacher
werden; der Wuchs ist kräftig, selbst stämmig; die Hände fest zugreifend;
die Köpfe voll im Fleisch und mit dem Seelenausdruck schlichter Men-
' Es geht in letzter Instanz zurück auf den südniederländischen Meister von
F lämalle, der überhaupt die Inspirationsquelle der Oberdeutschen ist, nicht Jan van Eyck.