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Das deutsche Altertum. 19
gefühl, vielleicht Rückfall in sehr alte, volkstümliche Gepflogenheiten,
die, zeitweilig von griechischer Kultur zurückgedrängt, nun zeigten, daß
ihre Rolle noch nicht ausgespielt war. Der zeitliche Vorsprung der
römischen Keilschnittfunde vor den aus germanischen Gräbern ans Licht
gebrachten ist sicher. Und je älter die letzteren sind, um so näher stehen
sie der südalpinen Formengebung. Zweifellos also hat hier Übertragung
aus dem Süden nach dem Norden stattgefunden.
Die Betrachtung noch auf weitere technische Gattungen auszudehnen,
ist für unseren Zweck entbehrlich. Vor allem muß uns interessieren, was
sich in den auf die Völkerwanderung folgenden Jahrhunderten aus der
damals gewonnenen Bereicherung des omamentalen F ormenschatzes
weiterhin entwickelte. Es ist zuerst ein Wählen und Aussondern, danach
ein Umformen. Für beides bleibt die auf das Abstrakt-Lineare eingestellte
Grundrichtung der germanischen Phantasie maßgebend. Eine Verände-
rung geht nur mit dem besonderen Charakter dieses Linienspiels vor sich.
Die in ihrer Einfachheit klaren und starren Motive der Frühzeit ver-
schwinden. Von verwickelteren Zusammensetzungen geradliniger Ele-
mente ist der antike Mäander am beliebtesten. Das Übergewicht erhalten
gekrümmte Linien ohne geometrische Bedingtheit, in freier, rhythmi-
scher Bewegung. Hinsichtlich der Motive wird indes auch hier aus dem
Vorrat der Antike geschöpft. Die Spiralwelle und das Flechtband werden
aufgegriffen, zuerst noch unverändert nachgeahmt, dann immer ver-
künstelter ausgebreitet, und endlich in ganz labyrinthische Verwirrung
gebracht, wobei es bezeichnend ist, daß die maßlosesten Bildungen dieser
Art doch erst bei den Nordgermanen zustande kommen (Abb. I5_I7),
während auf dem heutigen deutschen Boden die Nähe der antiken Nach-
fahren noch einigermaßen zügelnd wirkte. Man meine nicht,- daß hier eine
naturalistische Nachahmung von Band- und Riemenwerk Vorlage; alles
ist reine, unbedingte Linienphantasie ; soweit eine Anknüpfung an textile
Vorbilder darin gegeben ist, ist sie aus der Antike-"herübergenommen in
bereits dort vollzogener stilisierender Umformugg.
Noch bezeichnender ist, was in der germanischen Phantasie aus dem
antiken Tierornament wurde (Abb. II-I8)'. Antik gedacht war es,
tierische oder menschliche Gestalten in tektonische Gebilde so einzufügen,
daß sie deren Funktion anthropomorph versinnlichten: in der Baukunst
durch Karyatiden und Atlanten, an Möbeln und Geräten etwa durch
Endigungen in Klauen oder Köpfe (Abb. I2) oder auch als freie, ornamen-
tale Begleitung, z. B. an den Rändern von Gürtelbeschlägen als kauernde
Tiere. Wir kennen in großer Menge germanische Fibeln, an denen ähn-
liches versucht ist. Nur glaube man nicht, daß diese Darstellungen von
der Wirklichkeit ausgegangen seien; nein, ihre Vorbilder sind allemal
im antiken Kunstgewerbe zu suchen. Das Bemerkenswerteste dabei ist,
daß ihre Rezeption nicht etwa als Aufforderung zu eigener Naturbeob-
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