Sehnsucht und freudiger Begrüßung._ Dagegen nicht das leiseste Interesse
an der Körperform als solcher. Der primitivste Grieche hatte es schon;
aber wieviel mehr Seelenregung weiß der Deutsche sichtbar zu machen.
Die Entdeckung der Schuld. Den modernen Betrachter mutet
es einigermaßen komisch an, daß Gott (Vater und Sohn nicht unter-
schieden), wie schon auf der vorigen Szene, von seinem durch die ikono-
graphische Regel ihm vorgeschriebenen Buch nicht lassen kann. Für
unseren Künstler ist es kein totes Attribut. Er denkt sich ganz lebendig
in die Lage dessen hinein, der in diesem erregten Augenblick das Buch
nicht fallen lassen darf: er preßt es an die Brust. Um so ungehemmter
fährt der Zorn in den andern Arm, in den bohrenden Zeigefinger. Daß die
Proportionen falsch sind, der Schwerpunkt verfehlt ist, ist Nebensache.
Auf der andern Seite Adam unter der Last seines Schuldbewußtseins
zusammengekrümmt, stumm. DagegenEva, hinter demBusch und dem
Drachen verkrochen, den Blick dreist auf den zornigen Richter zukehrend
und mit der Linken auf den Drachen zeigend: dieser sei schuld, nicht sie.
Die Austreibung. Am Rande rechts die Pforte des Paradieses in einer
prunkvollen Phantasiearchitektur. Adam schleicht sich als ein gebroche-
ner Mann schleppenden Schrittes hinaus; Eva ist zurückgeblieben und
wendet sich zum Engel um, um noch einmal mit ihm zu verhandeln. Man
sieht: körperlich ist eine Differenzierung der beiden Geschlechter kaum
versucht, wie schlagend aber ist über das Seelische die Meinung ausge-
drückt!
Wir können uns vorstellen. daß die Hildesheimer Türen auch auf den
ungelehrten Laien Eindruck gemacht haben. Sie sind dem Jüngsten
Gericht in Burgfelden und einigen Werken aus der späteren Zeit der
Reichenauer Buchmalerei innerlich (nicht formal) verwandt. Wir begrüßen
hier die Anfänge einer aus selbständigem Empfinden quellenden, zu volks-
tümlicher Wirkung bereiten deutschen Kunst.
Mit dem Namen Bernwards von Hildesheim wird ferner die eherne
Christussäule des dortigen Domes (ehemals ebenfalls in St. Michael)
verbunden (Abb. 406). Sie ist ohne die Basis und ohne die verlorenge-
gangene Krönung 3,79 m hoch und 0,58 m stark. Auf einem fortlaufenden
Spiralband sind 28 Szenen aus dem Leben Jesu, von der Taufe bis zum
Einzug in Jerusalem, dargestellt. Vielleicht diente s-ie ursprünglich als
Leuchter für die Osterkerze. Die in die Literatur eingedrungene Da-
tierung auf das Jahr 1022 ist willkürlich. Die augenscheinlich vorliegende
Nachahmung der Trajanssäule in Rom kann mit einigem Grund für die
Entstehung unter Bernward geltend gemacht werden. xDabei aber muß
betont werden, daß sie technisch und noch mehr künstlerisch von der
Tür sich erheblich unterscheidet. Was der Tür am meisten fehlte, die
künstlerische Tradition, ist reichlich vorhanden, dagegen die originale
Kraft ist weit geringer. Ist sie unter Bernward entstanden, so müßte