BEHANDLUNG
ANTIKER
STOFFE.
Diefe Beobachtungen brachten Delacroix auch auf die Behandlung antiker
Stoffe, denen er feit feiner Jugend aus dem NVege gegangen war, nicht etwa weil
er die Antike verachtete, fondern weil er derfelben durch den Anblick der leb-
lofen Puppen aus der David'fchen Schule überdrüffig geworden War. Durch die
Reifen in Nordafrika war ihm die Erkenntnifs aufgegangen, dafs man bei der
Schilderung von Scenen aus dem Alterthum nicht, wie es David und feine Schüler
und Nachfolger gethan, von der Nachahmung der Statuen und Reliefs ausgehen,
fondern dafs man die Leidenfchaftlichkeit und Bewegtheit des modernen Lebens
auch auf die Antike übertragen müffe, da die Menfchen des klaffifchen Alter-
thums ebenfo gut Menfchen von Fleifch und Blut waren wie wir und von den-
felben Leidenfchaften bewegt wurden wie wir. Er verlangte nur, dafs man die
Antike nicht nach der David'fchen Manier auffaffe, dafs man den Apollo von
Belvedere und den Antinous nicht als vollkommene und einzige Ideale betrachte,
fondern dafs man auch etwas vom eigenen Leben in die antiken Typen hinein-
giefsen follte. So hat er denn auch auf feinen Gemälden, wie Chesneau treffend
bemerkt, zum erften Male das WVagnifs verfucht, nClGn Helden des Heidenthums
und der Mythologie ihre marmorne Maske vom Geficht zu ziehena. Delacroix
hat {ich felbft über fein Verhältnifs zur Antike und feine Auffaffung derfelben
zu wiederholten Malen geäufsert, u. a. in einem Auffatze über den von ihm Wegen
feines unabhängigen Kolorismus hochgefchätzten Prud'hon, wo er fagt: vWas die
Antike charakterifirtgift die gefchickte Fülle der Formen im Verein mit dem
Gefühl des Lebens, die Breite in der Flächenbehandlung und die Anmuth des
Gefammtbildes. Der wirkliche Geift der Antike befieht nicht darin, dafs jeder
einzelnen Figur der Anfchein einer Statue gegeben wird; er liegt auch nicht darin,
dafs man nach Reliefmanier komponirt, wenn es {ich darum handelt, eine aus
mehreren Gruppen befiehende Scene darzuftellenßr Was Delacroix von der Viel-
feitigkeit, von der nach Mannigfaltigkeit und Energie der Charaktere {trebenden
Auffaffung und den malerifchen Tendenzen der Antike vorherahnend gefagt hat,
das haben die Ausgrabungen der letzten zwanzig Jahre, insbefondere die Funde
von Pergamon, in überrafchender Weife beftätigt. Delacroix wartete auf eine
folche Befiätigung nicht, fondern übertrug feine Theorien mit gewohnter Kühn-
heit in die Praxis. Dafür legen fowohl Staffeleigemälde, wie die nRafende Medeau
(1838, Mufeum zu Lille), nKlCOpZ-Iifß. und der Baueru (1839), die vGerechtigkeit
Trajansa (1840, Mufeum zu Rouen), die nLClIZtCH Worte vonMark Aurela (Mufeum
zu Lyon), die nSibyllea (1845) und nOVld im EXllu (1859), als ganz befonders
feine monumentalen und dekorativen Malereien in öffentlichen Gebäuden Zeug-
nifs ab. In jenen wie in diefen legte er das Hauptgewicht auf den Ausdruck
der Empfindung, der Leidenfchaft und der Bewegung, kurz aller Affekte, deren
Darfiellung geeignet iil, im Gegenfatz zu der David'fchen Konvention den Schein
des Lebens zu erwecken und das Unregelmäfsige der lnfpiration an die Stelle
der akademifchen Berechnung zu fetzen. Je hartnäckiger und höhnifcher der
Widerfpruch von Ingres und feinen Anhängern wurde, defio mehr fpitzte {ich
die Leidenfchaftlichkeit Delacroix' zu. Noch im Todesjahre Delacroix' fchrieb
Ingres in einem offiziellen Aktenftück im Hinblick auf den Gegner, welchen er
wie den Teufel hafste: nEs ift nur zu wahr, dafs Frankreich feit mehr als dreifsig