Volltext: Kunst und Künstler der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (Abth. 4, Bd. 2)

BEHANDLUNG 
ANTIKER 
STOFFE. 
Diefe Beobachtungen brachten Delacroix auch auf die Behandlung antiker 
Stoffe, denen er feit feiner Jugend aus dem NVege gegangen war, nicht etwa weil 
er die Antike verachtete, fondern weil er derfelben durch den Anblick der leb- 
lofen Puppen aus der David'fchen Schule überdrüffig geworden War. Durch die 
Reifen in Nordafrika war ihm die Erkenntnifs aufgegangen, dafs man bei der 
Schilderung von Scenen aus dem Alterthum nicht, wie es David und feine Schüler 
und Nachfolger gethan, von der Nachahmung der Statuen und Reliefs ausgehen, 
fondern dafs man die Leidenfchaftlichkeit und Bewegtheit des modernen Lebens 
auch auf die Antike übertragen müffe, da die Menfchen des klaffifchen Alter- 
thums ebenfo gut Menfchen von Fleifch und Blut waren wie wir und von den- 
felben Leidenfchaften bewegt wurden wie wir. Er verlangte nur, dafs man die 
Antike nicht nach der David'fchen Manier auffaffe, dafs man den Apollo von 
Belvedere und den Antinous nicht als vollkommene und einzige Ideale betrachte, 
fondern dafs man auch etwas vom eigenen Leben in die antiken Typen hinein- 
giefsen follte. So hat er denn auch auf feinen Gemälden, wie Chesneau treffend 
bemerkt, zum erften Male das WVagnifs verfucht, nClGn Helden des Heidenthums 
und der Mythologie ihre marmorne Maske vom Geficht zu ziehena. Delacroix 
hat {ich felbft über fein Verhältnifs zur Antike und feine Auffaffung derfelben 
zu wiederholten Malen geäufsert, u. a. in einem Auffatze über den von ihm Wegen 
feines unabhängigen Kolorismus hochgefchätzten Prud'hon, wo er fagt: vWas die 
Antike charakterifirtgift die gefchickte Fülle der Formen im Verein mit dem 
Gefühl des Lebens, die Breite in der Flächenbehandlung und die Anmuth des 
Gefammtbildes. Der wirkliche Geift der Antike befieht nicht darin, dafs jeder 
einzelnen Figur der Anfchein einer Statue gegeben wird; er liegt auch nicht darin, 
dafs man nach Reliefmanier komponirt, wenn es {ich darum handelt, eine aus 
mehreren Gruppen befiehende Scene darzuftellenßr Was Delacroix von der Viel- 
feitigkeit, von der nach Mannigfaltigkeit und Energie der Charaktere {trebenden 
Auffaffung und den malerifchen Tendenzen der Antike vorherahnend gefagt hat, 
das haben die Ausgrabungen der letzten zwanzig Jahre, insbefondere die Funde 
von Pergamon, in überrafchender Weife beftätigt. Delacroix wartete auf eine 
folche Befiätigung nicht, fondern übertrug feine Theorien mit gewohnter Kühn- 
heit in die Praxis. Dafür legen fowohl Staffeleigemälde, wie die nRafende Medeau 
(1838, Mufeum zu Lille), nKlCOpZ-Iifß. und der Baueru (1839), die vGerechtigkeit 
Trajansa (1840, Mufeum zu Rouen), die nLClIZtCH Worte vonMark Aurela (Mufeum 
zu Lyon), die nSibyllea (1845) und nOVld im EXllu (1859), als ganz befonders 
feine monumentalen und dekorativen Malereien in öffentlichen Gebäuden Zeug- 
nifs ab. In jenen wie in diefen legte er das Hauptgewicht auf den Ausdruck 
der Empfindung, der Leidenfchaft und der Bewegung, kurz aller Affekte, deren 
Darfiellung geeignet iil, im Gegenfatz zu der David'fchen Konvention den Schein 
des Lebens zu erwecken und das Unregelmäfsige der lnfpiration an die Stelle 
der akademifchen Berechnung zu fetzen. Je hartnäckiger und höhnifcher der 
Widerfpruch von Ingres und feinen Anhängern wurde, defio mehr fpitzte {ich 
die Leidenfchaftlichkeit Delacroix' zu. Noch im Todesjahre Delacroix' fchrieb 
Ingres in einem offiziellen Aktenftück im Hinblick auf den Gegner, welchen er 
wie den Teufel hafste: nEs ift nur zu wahr, dafs Frankreich feit mehr als dreifsig 

	        
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