Volltext: Kunst und Künstler der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (Abth. 4, Bd. 2)

JE AN -AUGUSTE-DO MINIQU E 
INGRES. 
gefafßten Syitem allgemeiner Schönheit gezeichnet find; denn fein Lehrer David 
hatte ihn unterwiefen, überall einen imaginären Typus für jeden Gegenfland zu 
fuchen, und diefe typifche Jungfrau, diefer typifche Jüngling oder Greis fteckt 
auch Ingres fortwährend im Sinne; es gelingt ihm fein Leben lang nicht, {ich 
von diefer Art Idealifirens loszumachen. Er fperrt die Körper in einen rigorofen 
Contour ein, dafs es unmöglich wird, fie in natürlicher Entfaltung erfcheinen zu 
laffen, und fo darf man mit Recht die vorwurfsvolle Frage erheben: follen wir 
diefe Geftalten als wirklich fchön und als gutes Beifpiel annehmen, wo die Natur 
wiffentlich entitellt worden?  Sei es, dafs die I-lalfe üch verdrehen, wie in der 
Angelika und Francesca von Rimini, dafs die Glieder fich verlängern und knochen- 
los werden, wie in der Odaliske, oder fich zu umvahrfcheinlicher Musculatur zu- 
fammenballen, wie bei den Schergen im St. Symphorian, dafs die Schultern aus 
dem Gelenk gehen, wie beim Alexander derApotheofe Homers, oder dafs Amoren, 
Engel, Genien und Kinder die Proportionen und Formen kleiner Männer be- 
kommen. nDer Nabel der liegenden Odaliske ifl ein Loch in ihrer Flankeu,  
höhnen die Gegner  nSchienbein, Schenkel und Fufs der Sklavin, die neben 
ihr ein Inftrument fpielt, entziehen fich der Befchreibung, man mufs fie fehen!  
Ich vergafs diefen gehörnten Jupiter, der in einem Anfall erotifcher Wuth die 
fchlafendeAntiope überrafcht; die Unglücklichewird mit ihren zerftofsenen Knieen 
nicht entfliehen könnenlu 
Auf diefe einzelnen Fehler und oft abfichtlichen Uebertreibungen grofses 
Gewicht zu legen oder gar deshalb zu behaupten, Ingres habe nicht zeichnen 
können, wäre allerdings pedantifch. Sind doch feine Gemälde fonft fo reich an 
trefilichen Leiitungen gerade darin. Freilich die Art feiner malerifchen Aus- 
führung beeinträchtigt nicht felten, was feine Zeichnung zuvor richtig feftgeflellt. 
Die Unrichtigkeit der Farbentöne widerftreitet der Genauigkeit der Linien, die 
Geitalten treten vor, wo fie zurückweichen folltcn, und umgekehrt. Vergebens 
find fie in Linearperfpective gefetzt, feine Farbe wirft Alles durch einander, zer- 
ftört alle Diftanzen, die er fonft markirt, und wo mehrere Figuren neben einander 
liehen, erfcheinen fie wohl wie plattgedrückt und aufgeklebt. 
Aber all diefe Mifslichkeiten traten nur ein, wenn es darauf ankam, eine 
gröfsere Zahl von Perfonen im Raum zu vertheilen. Eine Limfängliche Compo- 
fition zu bewältigen, war gegen feine Begabung; immer wieder verfucht er die 
einzeln durchftudirten Geftalten zufammenzubringen und in die nöthige Be- 
ziehung zu fetzen, bis endlich die Energie des Willens aushelfen mufs, wo das 
Talent nicht reicht, bis er fie zurecht ftöfst und cirängt, natürlich nicht ohne 
ihnen Gewalt anzuthun und theilweife zu verderben, was er im Einzelftudium er- 
reicht. Diefer Mangel feiner künfllerifchen Organifation bekundete fich befonders 
in der Apotheofe Homers, wie fie 1827 vollendet ward, und abermals bei der 
Verbefferung für den Stich, die elf Jahre lang auf der Staffelei ftand. Sie war 
die Urfache, dafs er die Malereien für den Duc de Luynes nach endlofen Quale- 
reien zum Schlufs im Stich liefs. 
So mufs auch das eingeräumt werden; Ingres' Compofitionen find in der 
Regel nicht glücklich. Er hat kein Gefühl für den einheitlichen Zug momen- 
taner Bewegung, die alle Perfonen der Darflellung wie ein galvanifcher Strom
	        
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