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Vorlesung.
Fün fundzwaniigste
Thätigkeit des anderen beeinträchtigt, d. h. man kann sehr
wohl ihre gemeinsame Zusammenziehung bemerken. Und
wenn wir es uns überlegen, finden wir diese anatomisch
mögliche Verbindung auch thatsächlich häufig vorhanden,
trotz der Unvereinbarkeit der beiden ihnen entsprechenden
Gemütsbewegungen. Inmitten eines schweren körperlichen
Schmerzes, welcher eine unwillkürliche, unüberwindliche Zu-
sammenziehung des Augenbrauenmuskels bedingt, findet eine
heitere und starke Seele noch die Kraft zu lächeln. Um die
Bestätigung hierfür in einem Kunstwerk zu finden, genügt
es, das Antlitz des Seneka in dem Gemälde von Gior-
dano (der Tod des Seneka, im Louvre) zu studieren. Ein
ähnliches Beispiel gibt uns eine junge Frau, die eben Mutter
geworden ist, und die noch zuckend vom Schmerz der Ent-
bindung geteilt ist zwischen dem körperlichen Schmerz und
der inneren Freude über das Kind, dessen sie genesen ist,
und dem sie zulächelt.
Diese letzteren Beispiele zeigen, dass die anatomischen
Bedingungen bis zu einem gewissen Punkt vor denen, welche
aus der Natur der Gemütsbewegungen sich ergeben, den
Vorrang haben und dass eine Verbindung der Ausdrücke nur
möglich ist, insoweit der Bau des Gesichtes es zulässt. Wir
schliessen hier diese kurzen Bemerkungen über die Physio-
logie des Gesichtes und würden beglückt sein, wenn es uns
gelungen wäre, die Künstler zu überzeugen, dass im Spiel
des Gesichtsausdruckes nichts Phantasie, Laune und Ein-
gebung ist, dass vielmehr alles bestimmten festen Regeln
unterworfen ist, die gleichsam die Rechtschreibung für die
Sprache der Physiognomie bilden, und dass die möglichen
Verbindungen zahlreich und mannigfach genug sind, so dass
der Künstler volle Freiheit des Handelns behält, wenn er sich
nach diesen Regeln richtet, so gut wie der Dichter die
Regeln der Sprachlehre befolgt, ohne deshalb in dem Auf-
schwung seines Geistes gehemmt zu werden.