Vorlesung.
Erste
auch Anatomie der Körperformen, Anatomie
für
Künst-
ler genannt.
Diese, die Anatomie der Körperformen, soll hier behan-
delt werden. Da aber der Künstler nicht nur die Formen
des ruhenden Körpers oder der Leiche kennen muss, son-
dern vor allen Dingen die Veränderungen dieser Formen
während der Thätigkeit, bei Bewegungen, und im Stande sein
soll, sich Rechenschaft abzulegen über die Gründe dieser Form-
veränderungen, bedarf es einer Ergänzung der plastischen
Anatomie durch Bemerkungen über die Lebensäusserungen,
die Funktionen der Körperteile (Muskeln, Gelenke). Wir wer-
den also unter dem Titel Anatomie der Körperformen so-
wohl die Anatomie, wie die Physiologie (die Lehre von den
Lebensäusserungen) der Organe, welche diese Formen be-
dingen, zu behandeln haben.
Dass diese anatomischen und physiologischen Studien für
den Künstler, welcher den menschlichen Körper in den ver-
schiedensten Lagen, Stellungen und Bewegungen darstellen
soll, unbedingt notwendig sind, bedarf keines ausführlichen
Beweises, Dahingegen erscheint es nicht unzweckmässig,
die Gründe für die T hatsache aufzusuchen, dass die Meister-
werke der antiken Kunst mit bewunderungswürdiger ana-
tomischer Genauigkeit ausgeführt sind, Von Männern, welche
sicher niemals anatomische Studien getrieben hatten, und
die Verhältnisse klarzulegen, die es diesen Männern ermög-
lichten, durch tägliche Anschauung im gewöhnlichen Leben
die Kenntnisse zu erwerben, die uns nur durch das Studium
der Anatomie zugänglich sind.
Die griechischen Bildwerke geben die menschliche Körper-
form in wunderbarer anatomischer Genauigkeit wieder. Die
Werke von Phidias (Theseus und llissus), von Myron (der Dis-
kuswerfer), von Lysippus und Praxiteles (der ruhende Faun),
von Agasias (der Borghesische Fechter) um nur die Meister-
werke zu nennen, die in der Vorbildersammlung einer jeden
Kunstakademie vorhanden sind in der That derart be-
schaffen, dass auch die strengste Kritik keinerlei Fehler in