Volltext: Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt

Boden stehend Aepfel von den Bäumen liest, oder wenn 
man Wäsche auf hohen Leinen aufhängt, wenn man mit 
der Hand eine Last festhält, die man auf dem Kopfe trägt, 
oder wenn man ein Gewicht hoch über den Kopf hebt. 
Solche Bewegungen kommen aber jungen Mädchen 
der höheren Stände wenig vor und werden, sobald es die 
Mode verlangt, geradezu durch eine Kleidung behindert, 
welche man ihnen schon frühzeitig anlegt. Es sind dies 
die Leibchen, in denen das Achselstück nicht, wie es der 
Fall sein soll, auf dem oberen knöchernen Theile der 
Schulter ruht, sondern quer über den Deltamuskel hinläuft. 
Mädchen in solcher Kleidung sieht man, wenn sie den 
rechten Arm in die Höhe recken wollen, den Oberkörper 
weit nach links neigen, weil sie zwischen Arm und Rumpf 
nur mit Mühe einen stumpfen Winkel zustande bringen. 
Schultern mit schlecht entwickeltem Delloideus sind, wenn 
sie nicht fettreich sind, oben eckig, weil die Ecken des 
Knochengerüstes hervorragen, welches das Schulterende des 
Schlüsselbeines mit dem freien Ende der Schulterblattgräte, 
dem Acramiwz, bildet. Von diesen eckigen Höhen fallen 
dann die Flächen ohne gehörige NVölbung ab. Fcttablagerting 
kann zwar die Form verbessern, aber es wird nie die 
schöne Rundung erreicht, welche die gewölbten Schultern 
so hervortreten lässt, dass man in ihnen nicht blos das 
obere Ende des Armes sieht. Rauclfs berühmte kränze- 
werfende Victorien, die durch Reproductionen so sehr 
verbreitet sind, erscheinen bei aller ihrer Schönheit in den 
Schultern zu schwach und dürftig. 
Sei es die Rasse, sei es die Gewohnheit des Tragens 
und Festhaltens leichter Lasten auf dem Kopfe, Italien 
produciert viel mehr gute weibliche Schultern, als Deutsch- 
land, und dies kommt auch in der "italienischen Kunst zum 
Ausdrucke. Wenn man sich den Unterschied von deutscher 
und italienischer Gestaltung in recht auffälliger Weise zur 
Anschauung bringen will, so Vergleiche man einmal die 
schlank gebaute Heriodias des Vincenzo D ati vom Bap-
	        
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