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machen, von dem zweifelhaft ist, 0b es überhaupt vor-
komme oder jemals vorgekommen sei.
Unsere Künstler sind im vollen Rechte, an den Füssen
die zweite Zehe länger zu machen als die erste, als die
sogenannte grosse Zehe; denn das ist zwar bei dem jetzt
lebenden Geschlechte nicht die Regel, aber es kommt vor,
und zwar nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Er-
wachsenen, und zwar bei Erwachsenen arischer Rasse, wie
ich dies später nachweisen werde; aber an manchen An-
tiken Endet man die Beckenlinie mit ihren einspringenden
Winkeln einander auffallend stark genähert und so schroff
und scharf eingeschnitten, dass der Künstler Bedenken
tragen muss, sie nachzuahmen, so lange ein lebendes Para-
digma dafür fehlt. NVohl aber soll der Künstler nach
Modellen suchen, die sich dem antiken Schnitte annähern,
und nicht einen Bauch darstellen, wie ihn zum Beispiel
das Modell zeigte, welches Rembrandt zu seinem
Christus vor Pilatus diente.
Die Künstler der Renaissance und der Neuzeit haben
sich verschieden verhalten, bald sind sie den Antiken, bald
dem jetzt gewöhnlichen Typus gefolgt. Ersteres sieht man
in auffälliger Weise am Perseus des B enven uto Cellini
in der Loggia dei lanzi in Florenz und am Mars des
Sansovino auf der Treppe des Dogenpalastes. Bei letz-
terem ist der antike Schnitt missverstanden, indem sich
die von der Hüfte kommende Linie in querer Richtung bis
zur Scheide des geraden Bauchmuskels fortsetzt. Auch auf
Handzeichnungen, welche Rafael zugeschrieben werden,
findet man den antiken Schnitt. Später schlossen sie sich
wieder mehr dem modernen Typus an, den sie vor Augen
hatten. So entsinne ich mich nicht, an den nackten Männer-
gestalten von Guido Reni den antiken Schnitt gesehen
zu haben.
In einer dem Andr. del Verocchio zugeschrie-
benen Handzeichnung der Ufticien (Nr. 2) treten beide
Linien, die naturalistische und die typische der Antiken,