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Zweiter Teil.
Vierter
Abschnitt.
Ein hauiiger Fehler der Beine, selbst solcher, die sonst wohlgestaltet
und deren Oberschenkel von richtiger Länge sind, bestehtdarin, daß die
Unterschenkel relativ zu den Oberschenkeln zu kurz sind. Es macht
einen schlechten Eindruck, wenn ein Kunstwerk zu kurze Unterschenkel
hat. LANGER bezeichnet die Unterschenkel des vatikanischen Apollo und
der medicaischen Venus (in ihrer jetzigen Gestalt) geradezu als wider-
natürlich. Der Unterschenkel kann relativ zum Oberschenkel niemals zu
lang sein. Das geht aus den Messungen zur Genüge hervor, denn die
Unterschiede betragen, den Fuß mitgerechnet, neun bis zehn Teile am
Lebenden. Am Skelet verhalt sich die Sache umgekehrt, wie die Be-
trachtung der Skeletiiguren ergiebt. Die geometrischen Skeletfiguren 1
und 245 ergeben bei Anwendung des Meßzirkels, daß der Oberschenkel
langer ist als der Unterschenkel, wenn die Länge des Oberschenkel-
knochens von dem Gelenkkopf bis nach unten, zur Gelenkspalte im Knie
gemessen wird. Die Beurteilung dessen, was wir Bein nennen, ist eben
an dem, mit den Weichteilen umhüllten Skelet eine andere, als an den
macerierten Knochen. Am Lebenden sehen wir ein ansehnliches Stück
des Oberschenkelknochens nicht, weil es in dem Rumpfende verborgen ist.
Wir betrachten nur die freie Gliedmasse! Um die Übereinstimmung der
Maße an dem Skelet ebenso zu finden, wie sie weiter oben von dem
Lebenden angegeben wurden, muß das Skelet nach derselben Methode ge-
messen werden. Wird an der Skeletiigur 245 von dem vorspringendsten
Punkt des großen Rollhügels bis zur Mitte der Kniescheibe, unterhalb
von Nr.8 gemessen, so hat man die nämliche Distanz, wie bei den Figuren
251 und 252; sie macht 21 Teile der Körperhöhe aus. Von dort, herab
bis zu der Fußsohle ist dann die Strecke um neun Teile langer als der
Oberschenkel und behält auch dann noch eine größere Ausdehnung,
wenn man nur bis zum inneren Knöchel mißt. Nicht alle Verhältnisse
des Skeletes lassen sich direkt mit denen des lebenden Menschen ver-
gleichen, wenn nicht, wie in diesem Falle, der Begriff des Rumpfes auch
auf das Skelet übertragen wird. Das obere Ende des Oberschenkel-
knochens darf nicht mit zu dem Rumpf gerechnet werden, im Gegensatz
zu der systematisch-anatomischen Gliederung. Hier weicht die Anatomie
der Künstler von derjenigen des Anatornen ab. Das geschieht freilich
auch in anderen Beziehungen. Wenn die Künstler mehr hohe oder mehr
gedrungene Gestalten darstellen wollen, machen sie die Beine langer oder
der Unterschied wohl erklärlich. Er wird ferner verständlich, wenn beachtet wird,
daß QUETELET von der Schamfuge an Lebenden gemessen hat, die keinen so sicheren
Meßpunkt bietet wie der Damm z der Sitzhöhe. Immerhin ist der Unterschied he-
achtenswert und darf bei dem Entwurf einer lebensgroßen oder überlebensgroßen Figur
nicht als geringfügig angesehen werden. Der leichteren Vergleichbarkeit wegen steht
oben bei der Vergleichung der Angaben QUETELETEs "Damm" statt Schamfuge. Die
Teile liegen sich nahe; hier sei besonders auf diese Änderung der Angabe hingewiesen.