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Zweiter Teil.
Dritter Abschnitt.
sind jedoch sehr komplizierte Fälle, welche unsere Erfahrung zu beurteilen hat.
Erinnern wir uns an einfache Bilder, z. B. an die verschiedenen Stellungen, welche
eine Gruppe fröhlicher Genossen zeigt, die unter einem schattigen Baum gelagert
ausruhen. Der eine sitzt an der Erde und hat sich gegen den Baumstamm gelehnt,
der andere stützt den Oberkörper auf den wie eine Säule gestreckten Arm, und ein
dritter benützt dieselbe Säule nur zur Hälfte und legt das Haupt in die Hohlhand.
Die Absicht aller dieser Stellungen ist, den Schwerpunkt zu unterstützen. Dort hilft
der Baumstamm das Gewicht des angelehnten Körpers tragen, und hier übernimmt
es der Arm, den Rumpf vor dem Sinken zu bewahren. Beträchten wir die Darstellung
einer solchen Gruppe auf einem Gemälde, so regt sich sofort der kritische Geist,
wenn dem Künstler das Natürliche der Stellungen auch nur in einem Punkte mißlang.
Der Schwerpunkt erleidet bei jeder Änderung der Stellung eine
Verschiebung. Wir können uns ein deutliches Bild dieser Lageverände-
rung an dem Schwanken eines Kahnes machen, sobald der darin Sitzende
die Stellung ändert. Wer hätte sich nicht schon darüber gefreut, wenn
der leichten Neigung des eigenen Körpers im Augenblick der ganze
Naohen folgt und bald der eine, bald der andere Rand bis an den
Spiegel der blauen Fläche niedertaucht. Das leicht bewegliche Element
gestattet dieses ungefährliche Spiel, weil_ es doch wieder an allen Stellen
den schwankenden Kahn stützt; aber bei der Bewegung des Menschen
auf festem Boden, wenn hier der Schwerpunkt aus seiner Gleichgewichts-
lage gestoßen wird, so kann er nur durch eine rasche, zweckent-
sprechende Unterstützung vor dem gänzlichen Falle bewahrt werden. Bis
zu welchem Grade von Geschicklichkeit wir es hierin schon als Knaben
gebracht, zeigt die Schnelligkeit, Womit der unerwartete Stoß, der plötz-
lich unseren ganzen Körper aus dem Gleichgewicht geschleudert hatte,
durch ein paar Sprünge pariert wird. Aber es bedarf nicht des Hinweises
auf solch außerordentliche Leistungen; üben wir doch die Verlegung des
Schwerpunktes bei jedem Wechseln des Beines während des ruhigen
Stehens! Stellen wir uns auf das eine, während das andere als soge-
nanntes Spielbein nur leicht auf dem Boden ruht, so zeigt sich deut-
lich, wie bei der Entlastung des Einen eine Korrektion in der Stellung
des Rumpfes notwendig wird. Wir bewegen den Körper im Hüftgelenk
und den Lendenwirbeln seitwärts und zwar ungefähr um 20 cm, gerade
soviel als notwendig ist, um durch die Seitwärtsneigung den Schwerpunkt
senkrecht über das unterstützende Fußgelenk zu bringen.
Dasjenige Bein, auf dem nunmehr der Körper steht, heißt Stand-
bein. Die Figur 247 zeigt jene Stellung, wie zahllose andere aus der
alten und neuen Zeit, bei denen der Mensch auf einem Bein steht, um
das andere unterdessen ausruhen zu lassen. Die Seitwärtsneigung des
Rumpfes und die Verschiebung im Hüftgelenk sind in dieser Skizze meister-
haft dargestellt. In solcher Stellung fällt also die Schwerlinie in die
Sohle des Standbeines, während das andere, das Spielbein, nicht mehr
zur Unterstützung des Körpers dient und frei ist für die Bewegung.