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Zweiter Teil.
Erster Abschnitt.
zwar die Form etwas verbessern, aber nicht vollkommen ersetzen. Wie
sehr das Fett die Formen abändert bei Mann und Frau, lehrt die Ver-
gleichung der männlichen und weiblichen Schultern. Sie zeigen insofern
einen beträchtlichen Unterschied, als alle Muskeln weicher und durch
mehr Fett verhüllt sind, Unterschiede, die auch bei dem Betasten bemerk-
bar werden.
Der Unterleib der Jungfrau zeigt nur die allgemeinen Linien der-
jenigen Gliederung, die bei dem Mann so stark hervortritt und besonders
an den geraden Bauchmuskeln, der seitlichen Grenzfurche und den Rändern
des äußeren schiefen Bauchmuskels zu bemerken ist; der größere Fett-
reichtum mildert alle diese Formen. Ein kleiner Bauch ist offenbar ein
Attribut jungfräulicher Schönheit und jede stärkere Wölbung wirkt un-
schön. Nur zu oft ist er durch größere Mengen von Nahrungsmitteln
und Gasen ausgedehnt. An der Figur 227 ist dies wahrscheinlich der
Fall gewesen, denn das Licht unterhalb des Nabels deutet auf eine
größere Fülle, als man bei den übrigen Formen des Körpers erwarten
sollte. Diese kann aber nur von dem erwähnten Inhalt oder von einer
allzufrühen Schwellung durch Fettablagerung herrühren. Ein noch stärker
gewölbter Bauch galt einmal für schön zur Zeit Luxus CRANAorüs. Da-
mals war er oft hervorgerufen durch die Schnürleiber, die lnicht so weit
nach abwärts reichten wie heutzutage, dafür aber die Brust um so mehr
abplattetenß Bei dem Umstand, daß die Arme der Figur 227 empor-
gehoben sind, ist die Dicke des Unterleibes noch auffallender, denn bei
solcher Haltung sollte er viel weniger hervortreten, als dies der Fall ist.
Dieser Tadel trifft die Figur 228 nicht, obwohl der Unterleib trotz des
emporgehobenen Armes ebenfalls in kräftiger Wölbung hervortritt. Denn
hier ist dieselbe bedingt durch die Geräte, welche in den Händen ge-
tragen werden. Obgleich dieselben nicht schwer sind, zwingen sie doch
den Oberkörper zu stärkerem Rückwärtsbiegen, die Lendengegend wird
vertieft, d. h. das Kreuz "wird hohl gemacht, wie es populär ausgedrückt
wird, und dadurch ist der Unterleib so hervorgewölbt, wie dies in der
Figur 236 zu bemerken ist.
Der Nabel wird allgemein als vertieft dargestellt, denn ein hervor-
ragender Nabel beruht auf mangelhaftem Verschluß während der ersten
Lebenstage. Dagegen wird bei den Frauen und Jungfrauen die Um-
gebung des Nabels durch Fettablagerung hervorgehoben, jedoch immer
in der Weise, daß der Verlauf der mittleren Bauchlinie nicht völlig ver-
deckt wird. In der Figur 227 ist diese Wölbung ansehnlich und der
Nabel bildet eine etwas zu tiefe und zu große Grube. Die jungfräuliche
1 Über die verschiedene Auffassung
im Cinquecento siehe H. WÖLFFLIN, Die
München 1899.
weiblicher Schönheit im Quattrocento und
klassische Kunst. Mit 110 Abbildungen.