474
Zweiter Teil.
Erster Abschnitt.
geben, die wir an ihm bewundern, während sie uns an der Frau ab-
stoßend erscheinen würden. Vergleicht man damit die Linien an den
Gliedern der Frau (Figur 227 und 228), S0 wird der Grad des sexuellen
Unterschiedes vollkommen deutlich. Die Anordnung, der Bau und des-
halb die Mechanik der Muskeln und Gelenke ist dieselbe, das Fett aber
erhält die Bedeutung eines sexuellen Merkmales, das alle harten Formen
mit seinem weichen Schleier überzieht, der mehr ahnen als sehen läßt.
Auf einen wichtigen sexuellen Unterschied, auf den schiefen An-
satz des Armes wurde in der Knochenlehre (S. 152) hingewiesen, er ist
an der Figur 236, und zwar am rechten Arm, deutlich vorhanden, aber
in keinem allzustarken Grade entwickelt und überdies durch die ganze
Haltung gemäßigt, der Arm ist nämlich wenig pronirt, und damit der
schiefe Ansatz etwas verschleiert. Der Oberarm ist bei der Frau nicht
so stark abgeplattet wie bei dem Mann, aber er ist keineswegs drehrund,
wie ihn die Antike dargestellt hat. In der Renaissance wurde die natür-
liche Form etwas mehr berücksichtigt. Auch wurde die Breite des Unter-
armes zum deutlicheren_Ausdruck gebracht. Die Meister der Renaissance
waren eben viel stärkere Naturalisten als man nach den hergebrachten
Lehren anzunehmen gewohnt ist. Knaben haben mehr abgeflachte Ober-
arme als Mädchen, es entwickelt sich aber schon frühe mit dem
12-14. Jahre die Annäherung an die männlichen Eigenschaften. Spätere
Meister der Renaissance haben" ihren Engeln bei sonst vorherrschendem
männlichen Typus Weiberarme gemalt, während ANDREA DEL SARTO den
seinigen mit Vorliebe Knabenarme malte. Die Engel denkt man sich
durchweg männlichen Geschlechtes, wenn also PALMA der Jüngere seinen
Engeln sehr ausgesprochene, schöne Mädchenarme malte (BRÜCKE) und
auch im übrigen der weibliche Charakter bei ihnen vorherrscht, so hat
er sich eben von der Tradition befreit. Man darf übrigens nicht ver-
gessen, daß es sehr schöne und für die künstlerische Verwendung sehr
brauchbare Frauenarme giebt, bei denen vermöge einer kräftiger ent-
wickelten Muskulatur der Deltamuskel und auch die Beuger und Strecker
des Armes sich mehr oder weniger bemerklich machen. Dennoch er-
scheint ein solcher Arm nicht männlich, wenn ein mäßiges Fettpolster
die Formen weich erhält. Solche Arme eignen sich für Karyatiden-
gestalten, um etwas Kraft zum Ausdruck bringen zu können. Es ist
ein im Publikum viel verbreitetes Vorurteil, daß körperliche Übung (Turnen)
an dem Arm der Mädchen männliche Form hervorrufe. Eben jetzt zieht
durch die Städte Europas eine Schar von Mädchen, welche die erstaun-
lichsten Kraftleistungen vollführen, und doch besitzen ihre Arme und
Beine nicht männliche, sondern weibliche Formen. Bekannt ist wohl
noch vielen die Trapezturnerin LEONA DABE, welche als Begleiterin des
Zirkus RENZ die Schönheit ihrer weiblichen Arme in allen großen Städten
der Welt zur Schau gestellt hat. Bei Frauen, welche sich in der so-