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Achter Abschnitt.
eine leichte Modellierung vorhanden, welche das Auge leitet. Wie bei dem Mann
so bedingen auch bei der Frau die individuellen Verschiedenheiten manchen Wechsel
in dem Auftreten der erwähnten Formen (vergl. das Kapitel Haut, S. 37). So ist
der Anfang der Leistenlinie vorhanden, sie geht aber dann in die Bauchlinie über,
wodurch eine Form entsteht, die sich der männlichen etwas nähert (Venus von MILO,
capitolinische und medicaeische Venus). In anderen Fällen, wenn die Darmbeine
steil aufgerichtet sind, wie bei dem Manne, entsteht ein Verlauf der ganzen Becken-
linie, welche fast männliche Formen zeigt: es ist ein leichter Weichenwulst vorhanden
und die Leistenlinie zieht von der Spina zu der Spitze des Schamberges. Alle
Varianten müssen beurteilt werden nach der An- oder Abwesenheit der drei Linien:
Bauch- und Leistenlinie und Schenkelbeuge. Fällt die Leistenlinie mit der Schenkel-
beuge zusammen, dann entsteht ein steiler weicher Verlauf; fällt aber die Leistenlinie
ganz oder teilweise mit der Bauchlinie zusammen, dann macht die Form einen mehr
kräftigen Eindruck. Übrigens ist wohl zu beachten, daß die Art, wie diese" Linien
auftreten, von der jeweiligen Stellung in so hohem Maße abhängt, daß man die beiden
Formen in einem und demselben Körper finden kann. Wie BRÜCKE hervorhebt, ist
es aber nicht die Stellung allein; denn zwei Personen in gleicher Stellung zeigen
Unterschiede, welche abhängen von Verschiedenheiten in der Fettablage der Gestalt,
der Neigung des Beckens und von der Stellung des Halses des Oberschenkelknochens.
Das Altertum und die Renaissancezeit haben schöne Figuren hinterlassen, wo bald
die Leistenlinie und bald die Schenkelbeuge fehlt, also nur eine einzige Linie die
Grenze zwischen Rumpf und" Schenkel darstellt.
Bei einem am Kreuz hängenden Christus ist die Wirbelsäule gestreckt, die ein-
gesunkene Bauchwand ist eine Folge des Todes; die Luft ist aus dem Brustkorb ent-
wichen, es ist also falsch, beim Gekreuzigten die Zacken des Obliquus abdonzin-is in
jener krampfhaften Kontraktion darzustellen, die nur zu häufig beliebt wird. Dieser
Muskel wurde stets mit Unrecht in der Aktion vorgeführt. Bei gostreckter lrVirbel-
säule und gestreckten Beinen verhält er sich passiv. Die Bauchmuskeln vermögen
die Rumpfbeuge nicht allein dadurch zu erzwingen, daß sie den Oberkörper durch
Zug an dem Brustkorb in die Höhe heben, sondern auch auf die entgegengesetzte
Art, dadurch, daß sie bei festruhcndem Brustkorb das Becken und mit ihm
die Beine gegen den Oberkörper heraufziehen. Wenn der Jongleur auf dem
Rücken liegend, mit den Beinen eine Stange balanciert, so muß das Becken soweit
gedreht werden, daB die Beine in die Luft ragen können. Diese Drehung des Beckens
bringen die Bauchmuskeln dadurch zustande, daß sie bei dieser Aufgabe ihren An-
griffspunkt (Punetum vnobile) an dem Schambein und an dem Hüftbeinkamm haben,
daß also jetzt umgekehrt wie in dem vorhergehenden Falle der sonst bewegliche
Brustkorb fixiert ist (das Punctum fixum darstellt) und das früher stabile Becken
nunmehr zur Bewegung gezwungen wird. Die dreifach geschichtete Bauchmusku-
latur bildet mit ihren Aponeurosen einen kräftigen Verschluß der Bauchhöhlc. Obwohl
nach innen noch zwei derbe Membranen folgen, die quere Bauchfascie (Fa-seien
ÜNZNMJGTSG) und das Bauchfell (Peritoweum), so sind damit doch nicht alle Gefahren
beseitigt, welche das heftige Anpressen der Eingeweide gegen die Bauchwand mit
sich bringt; es können teilweise Zerreißungen der Muskel- und Sehnenschichten vor-
kommen. Die Stelle der früheren Vereinigung zwischen Mutter und Kind ist der
Nabel. Hier traten während der Entwickelungsperiode Blutgefäße ein und aus, in
welchen der ernährende Saft von der Mutter zu dem Kinde strömte, und umgekehrt.
Nicht immer verwächst sogleich diese Pforte vollständig fest und so kann es ge-
schehen, daß durch das Schreien des Kindes die Nabelpforte von innen her wieder
auseinander gezerrt wird, und eine Darmschlinge sich den Weg bis unter die Haut
bahnt. Der "Nabelbruch" macht sich dann als rundliche Geschwulst bemerkbar.