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Siebenter Abschnitt.
Wenn die Gebärde vollkommen ausgeführt wird, so wird der Arm im
Ellbogengelenk gebeugt und dabei an den Körper angedrückt, während
die offenen Hände mit gespreizten Fingern sich nach auswärts drehen,
gleichsam bereit zur Annahme oder zur Abwehr der Gabe oder der Zu-
mutung. Diese ganze Gruppe von Gebärden äußert sich in allen mög-
lichen Graden, indem die lange Reihe der einzelnen Affekte auftritt, oder
nur ein unbedeutendes Seitwärtswenden der offenen Hände mit ausge-
spreizten Fingern erfolgt. Daß es sich hier nicht um eine von kompli-
zierten Kulturverhältnissen erzeugte Gebärde handelt, sondern um eine
durch innere Organisation bedingte, geht daraus hervor, daß sie in der-
selben Form auch bei Naturvölkern vorkommt, welche keinen Verkehr
mit Europäern hatten.
Diese Gebärde wird übrigens auch für nahe verwandte Empfindungen
gebraucht; so hilft sie die Unmöglichkeit ausdrücken, eine verlangte Hand-
lung auszuführen, das Antlitz und der Körper ziehen das Gewand der
Unentschiedenheit an, obwohl schon der Entschluß feststeht, „ich will es
nicht thun"; dieselben Gebärden lehnen auch die Verantwortung ab für
einen Schritt, den irgend eine andere Person ausführt, welchen wir aber
nicht verhindern können. Sie begleiten Redensarten, wie „es war nicht
meine Schuld", oder „er muß seinen eigenen Gang gehen, ich kann ihn
nicht aufhalten". Das Zucken mit der Schulter drückt gleichfalls Ge-
duld oder die Abwesenheit irgend welcher Absicht zu widerstehen aus.
Daher werden die Muskeln, welche die Schultern erheben, zuweilen auch
"Geduldmuskeln" genannt.
Die Äußerungsformen der einzelnen Affekte zeigen, wie die voraus-
gehende Beschreibung ergiebt, eine unbestreitbare Verwandtschaft inner-
halb bestimmter psychologischer Gruppen, die als Lust- und Unlustgefühle,
als Begehrungen und Widerstrebungen einander gegenüber stehen. Es
unterliegt kaum einem Zweifel, daß diese Art der Gliederung zutreffend
und für die Zwecke der plastischen Anatomie belehrend ist. Gleichwohl
giebt die Unterscheidung der Ausdrucksbewegungen nach ihrem sympt0-
matischen Charakter noch keinen genügenden Einblick in ihr Wesen,
und man hat deshalb versucht, sie nach ihrem unmittelbaren Ursprung
in gewisse Gruppen zu sondern. Diese Versuche sind höchst wertvoll,
und für eine richtige Auffassung des Ausdruckes der Gemütsbewegungen
unerläßlich.
Innerhalb der großen Reihe der durch Affekte hervorgerufenen Be-
wegungen unterscheidet man eine Gruppe, welche aus dem physiologischen
Gesetz der Assoziation analoger Empfindung entspringt. Nach
dieser allgemeinen Regel entsteht der Ausdruck des Sauren und Süßen
in den Muskeln des Mundes und der Zunge auf die bloße Vorstellung