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Siebenter Abschnitt.
Schluß der Lidspalte. Der Reilexbogen ist kurz, die Erregung geht von
der gereizten Stelle aus nach dem Gehirn, und durch das Reflexzentrum
hindurch auf jene motorische Bahn, welche ausschließlich den Ringmuskel
des Auges innerviert. Die ausgebreiteten Reflexe sind eine andere
Form, bei der nach Erregung einer sensibeln Faser innerhalb großer
Muskelgruppen Bewegungen komplizierter Art ausgelöst werden, welche
nicht bloß den Charakter der Zweckmäßigkeit, sondern auch den Schein
der Absicht an sich tragen. Hierher gehört das Niesen, Husten, das
Zurückziehen der Arme und der Beine bei unerwarteter Berührung, die
Abwehr- und Fluchtbewegungen u. s. w.
Diese Auseinandersetzung über Reiiexbewegungen sollte darauf vor-
bereiten, die mechanische Grundlage, auf welcher der Ausdruck der
Gemütsbewegungen beruht, in den Hauptumrissen zu schildern. Die
Gemütsbewegung ist freilich nicht direkt dem Reiz der Bindehaut oder
der Wirkung des Blitzes auf die Netzhaut vergleichbar. Sie ist ein
geheimnisvoller Zustand unseres Nervensystems, und zwar jener Sphäre,
die wir als Bewußtsein bezeichnen. Freude, Trauer, Zorn erzeugen Vor-
stellungen, d. i. eine Kette von freudigen oder schmerzlichen Vorgängen
in unserem Innern. Wenn eine Vorstellung oder, was gleichbedeutend
ist, ein Affekt unser Inneres bewegt, so entsteht jene Stimmung, welche
die Gefühle von Freude und Schmerz und Zorn begleitet? Dabei über-
schreiten jene geheimnisvollen Wellen der Bewegung die Bahnen inner-
halb der Schädelkapsel, und setzen sich unabhängig von dem Willen
in die motorischen Nervenfasern des Körpers fort. Sie überfluten gleich-
sam die Ufer, und die Wellen erreichen entfernte, an der Peripherie des
Körpers liegende Gebiete. Diese in die Peripherie getragenen Bewegungen
werden schließlich als Muskelzug bemerkbar. Diese Spannung bestimmter
Muskelgruppen erzeugt Gebärden, und so "werden die Muskeln die Dol-
metscher unserer inneren Regungen. So fahrt der Schreck oder die
Freude gleichzeitig in verschiedene Muskeln, und veranlaßt unbewußt
Zuckungen, die sich über den ganzen Körper ausdehnen und bei dem
Zorn können nach und nach oder sofort alle Muskeln des ganzen Körpers
in Aufregung geraten.
Neben den Muskeln stehen auch die Gefäße, die Haut und andere
Organe im Dienste der Mimik.
Das Werk von Cn. DARWIN: Über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei
Mensch und Tier, deutsch von V. CARUS, enthält unter den neueren Werken wohl die
vielseitigste Erörterung dieses Gegenstandes. Der Wert dieses ausgezeichneten Buches
bleibt auch dann unbestreitbar, wenn nicht alle Erklärungen, welche dort für die
Entstehung der Gebärden gegeben werden, vor der Kritik bestehen sollten.
1 Für eine weitere Analyse der Gemütsbewegungen, namentlich in Bezug auf
eine Trennung der Affekte und Triebe, verweise ich auf WUNDT, Grundzüge der
physiologischen Psychologie. Leipzig. V. Abschnitt. S. 820 u. 1T.