Geschichte
der plastischen
Anatomie.
Gegenteil. Die gerade, aufrechte Stellung des menschlichen Körpers
bildet für jede Art der anatomischen Beschreibung den Ausgangspunkt.
Der Verlauf der Muskeln, Sehnen und Knochen, die Richtung, die sie
besitzen, und das was man ihre natürliche Lage nennt, erhält Namen
und Verständnis nur dadurch, daß in allen Lehrbüchern von dieser Hal-
tung aus die Erklärung der Teile beginnt. „Oben und unten," "vorn und
hinten" erlangen nur dadurch den rechten Sinn, gerade so wie im ge-
wohnlichen Leben.
Von dieser ruhigen Haltung des Körpers aus" beurteilen wir dann
auch in der Wissenschaft wie in der Kunst den Übergang zu der Be-
wegung und der damit verbundenen Änderungen der Form. S0 war es
denn geboten, in den vorliegenden Figuren ein gewisses Gleichgewicht
eintreten zu lassen zwischen der Zahl der ruhigen und der in Bewegung
dargestellten Abbildungen des Menschen. Für die bewegten Körper war
es wünschenswert, eine allgemein bekannte Statue zu benützen, deren
anatomisch richtiger Aufbau gleichzeitig von allen anerkannt ist, und
hierfür war keine mehr geeignet als der borghesische Fechter. Überall,
an allen Akademien, Kunst- und Zeichnungsschulen wird dieses schöne
Kunstwerk kopiert, als ein mit Recht bewundertes Bild eines in lebens-
voller Bewegung unaufhaltsam weiterstürmenden Jünglings. Dieses Werk
des AGASIAS zeigt die Muskeln mit erstaunlicher Naturwahrheit, man könnte
dasselbe auch eine mit dem Meisel geschriebene plastische Anatomie nennen.
Diesem Umstand verdankt der borghesische Fechter schon wiederholte
anatomische Bearbeitungen, unter denen ich nur diejenige von SALVAGE,
Le gladiateur combattant, applicable aux beaux arts (22 Tafeln in folio
max.), welche 1812 in Paris erschienen ist, erwähnen will. Die Teile des
Skeletes "sind in die Konturen der Figur mit großem Verständnis ein-
gezeichnet; sie waren mir wertvolle Hilfsmittel für einzelne Darstellungen.
Für einzelne wichtige Partien des Körpers konnten Stiche nach großen
Meistern verwendet Werden; die sicheren markigen Linien z. B. MICHEL-
ANeELds sprechen laut genug für sich selbst.
Andere Abbildungen sind nach anatomischen Präparaten direkt von
den Herren Kunstmalern Dr. ScHInER und W. BÜCHLY in Basel gezeichnet,
oder nach denjenigen anatomischen Modellen entstanden, die Herr Professor
CHR. Rom unter meiner Leitung in München von den Jahren 1864-68
modelliert hat. Unter diesen sind besonders die drei Figuren über die
Muskulatur des Rumpfes zu nennen. Seit der ersten Auflage dieses
Buches haben sich manche Reproduktionsmethoden bedeutend vervoll-
kommnet. Es wurde davon weitgehender Gebrauch gemacht und zwar in
der Weise, daß neben die Figuren (Galvanos) erklärende Konturzeich-
nungen (Zinkos) gesetzt wurden. Sie geben in sicheren Linien die Form
der unter der Haut liegenden Muskeln und Knochen. Die einfachen
Konturen sind erst nach genauerem Studium der Photographie, nach der