Einleitung.
ausfallen, je nach Neigung und Geschmack. Ich habe zumeist individuelle
Erscheinungen, aber auch Vorbilder der Antike und der Renaissance berück-
sichtigt. Von antiken Statuen berufe ich mich am häufigsten auf die be-
kannte Figur des borghesischen Fechters, und aus der Blütezeit
der Renaissance wurde mit Vorliebe MroHELANeEno ins Auge gefaßt.
Seine nackten Figuren zeigen die am besten verstandenen Formen. Die
Führung der Linien ist von einer Naturwahrheit, wie sie kaum einer nach
ihm wieder in diesem Maße erreicht hat. Die Konturen des lebenden
Muskels bei allen nur denkbaren Verschiebungen in der richtigen Form
zu erkennen und darzustellen, das erforderte neben der Macht des Könnens
zugleich die' ganze Tiefe anatomischen Verständnisses. Wenn auch nichts
darüber bekannt geworden ware, daß er zwölf Jahre teils in Florenz und
teils in Rom neben seiner künstlerischen Ausbildung den anatomischen
Studien obgelegen habe, und daß er mit dem berühmten Anatomen REALDO
COLOMBO bekannt gewesen sei, seine nackten Figuren würden deutlich
genug davon erzählen. Die Überzeugung, daß für das Studium der
Muskulatur kräftig entwickelte Körper unerlaßlich sind, bei denen alles
stark und deutlich gezeichnet und leicht durch die Haut hindurch be-
merkbar ist, hat mich veranlaßt, die Muskeln überall kräftig darzustellen.
"Wer einmal die vollen Muskeln und Muskelgruppen sich klar machen
konnte, der wird sie auch in dem abgeschwächten Grade wieder erkennen.
S0 wie man dem Anfänger im Lesen nicht Miniaturbuchstaben vorlegt,
sondern Riesenlettern, so darf man "auch dem Künstler nicht abgemagerte
Schwächlinge zeigen, wenn er die Muskulatur des Körpers verstehen soll.
Lieber einen Grobschmied zum Modell als einen Schneider.
Die letzten Zweifel über die Wahl der Vorbilder für die Muskellehre
schwinden gegenüber der Thatsache, daß die meisten Künstler, welche
plastisch-anatomische Zeichnungen veröffentlichten, mit kecker Hand die
Fülle der Natur zum Ausdruck brachten. Bei den Abbildungen. dieses
Buches wurden überdies die einzelnen Muskeln so dargestellt, wie sie sich
im Leben und während der Bewegung verhalten, nicht wie sie an dem
anatomischen Präparat schlaff herunterhängen. Um solche Abbildungen
herzustellen, muß zu der Zergliederung der Leiche noch das Studium am
Lebenden hinzukommen. Als Ausgangspunkt ist die volle kräftige Mus-
kulatur des Mannes gewählt. Von hier bis zum abgezehrten Greis oder
bis zu den weichen Formen des Weibes wird der Künstler seinen Weg
dann selbst finden können. Wer einiMeister ist, kann das Fortissimo
und das Pianissimo in jeder Tonart spielen. Wer den menschlichen
Körper kennt, wird auch Schwächlinge malen können, obwohl er nur die
Anatomie an Athleten studiert hat.
Die für das vorliegende Buch ausgewählten Abbildungen stellen ent-
weder die Körper- und Skeletteile ruhender oder bewegter Menschen dar.
Sie nur ruhenden zu entnehmen, wäre ebenso fehlerhaft gewesen, als das