Geschichte
Anatomie.
der plastischen
Ich habe mir deshalb Mühe gegeben, nur wohlgeformte und kräftige Männer-
gestalten in diesem Buche darzustellen.
Es ist ein niederer Vergleich, aber er ist zutreffend: Der Künstler
soll die Fehler in der menschlichen Gestalt kennen, wie der Pferdekenner
die Fehler in der Gestalt des Pferdes kennt. Er braucht deshalb nicht
einförmig zu werden, nicht seine Gestalten einem konventionellen Schema
nachzubilden, er kann die Schönheit in ihren verschiedenen Erschei-
nungsweisen aufsuchen. Man h_at bekanntlich noch keinen Mann oder
keine Frau gefunden, deren Körper von Allen als tadellos schön bezeichnet
wird, aber schön vom Standpunkt der gebildeten Welt kann diejenige
Gestalt heißen, welche sich in allen Stellungen und in allen
Ansichten, soweit sie in der idealen Kunst überhaupt zur An-
Wendung kommen, vorteilhaft verwenden laßt. An solchen Ge-
stalten" möge man das Auge üben. Es sind noch immer genug gut ge-
baute Männer und Frauen und Kinder auf der Welt zu ünden.
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Was eben von den Menschen im allgemeinen bezüglich der Verschieden-
heit der Körperform gesagt wurde, gilt auch von der Proportion. Der";
menschlichen Gestalt liegt eine bestimmte Proportion zu Grunde. Alle
Menschen erscheinen nach diesem allgemeinen Grundplan organisiert. Die Ä
verschiedenen Menschenrassen weichen nur in geringem Grade von der l
Hauptregel ab. Wenn nun wir Europäer an den normal entwickelten '
Kulturmenschen denken, so stellen wir uns Leute von einem bestimmten
Ebemnaß im Gesicht wie in dem ganzen übrigen Körper vor. Dieser
Normalmensch ist jedoch, das dürfen wir nicht vergessen, eine Abstraktion.
Von all den menschlichen Gestalten, von den lebenden oder plastisch
dargestellten, haben wir die nach unserer Meinung besten körperlichen
Eigenschaften in einem Gesamtbild vereinigt und alles haßliche oder un-
vollkommene daraus entfernt. Solche Normalmenschen kommen in der
Wirklichkeit nicht vor, dennoch hat sie die Kunst stets dargestellt, die
Antike wie die Renaissance. Dabei hat jeder dieser Normalmenschen aus
diesen großen Kunstperioden etwas eigenartigesß
Es entsteht nun die Frage, welchen dieser Normalmenschen soll man ;
als Vorbild für die plastische Anatomie wählen, jenen des MICHELANGELO,
der Antike oder neuerer Meister? Die Antwort wird stets verschieden
1 Von den großen Meistern hat jeder seinen eigenen Normalmenschen. Wie
jeder seine eigenen Ideale und seine besonderen Vorstellungen vom Schönen besitzt,
so auch die schöpferischen Köpfe der klassischen Kunstperioden. Die N ormalmensehen
des WCHELANGELO sind andere als die des Lnormnno DA Vmcr oder des RAFAEL. Alle
männlichen Gestalten des ersteren haben etwas Hünenhaftes, das an Titanen erinnert.
Selbst seine Frauengestalten haben etwas Gewaltiges. Würde irgend eine von dein
Grab der Mediceer herabsteigen und auf uns zuschreiten, wir träten erschrocken bei-
seite. Sie scheinen nicht der Liebe fähig; sie sind auch, wie man schon wiederholt
gesagt hat, nicht zum Verlieben.