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Vierter Abschnitt.
physiologischer Notwendigkeit ein. Diese Vorstellung erweckt in uns
das Bewußtsein, bei diesen und ähnlichen Kunstwerken wie bei wirk-
lichen Situationen, daß der Augenblick der Entscheidung unmittelbar
bevorsteht. Sieg oder Tod stehen hart nebeneinander, und diese Empfin-
dung, bewußt oder unbewußt, steigert unser Interesse. Abgesehen von
allen anderen Mitteln, welche in dem hier gewählten Beispiel auf uns
wirken, ist die Füllung der Brust mit Luft eine jener Hauptformen des
Kunstwerkes, welche den Eindruck siegreicher Kraft und schneller, ziel-
bewußter Bewegung hervorbringen.
Der große Gegensatz in dem Verhalten des Thorax tritt sehr an-
schaulich hervor in den ohne Andeutung einer besonderen Thätigkeit
ruhig stehenden Athletenbildern. Die Höhe der vorderen Brustiläche
ist nur wenig verschieden von derjenigen des Unterleibes. In dem
sterbenden Fechter bringt es das Vorbeugen des Körpers mit sich,
daß die Brust sogar tiefer liegt, als der gewölbte Unterleib. Übrigens
darf man annehmen, daß hier die Brust ausgeatmet hat; WINCKELMANNS
Bemerkung, man sehe deutlich, wie viel von der Seele bereits entwichen,
prägt sich auch in der Form des Thorax aus.
Die Mechanik der oben erörterten Bewegungen verlangt, daß die Verbindung
der sieben wahren Rippen mit dem Brustbein nicht absolut fest, sondern ebenfalls
durch einfache Gelenke hergestellt werde, und daß die Rippenknorpel der falschen
Rippen sich gleichfalls, wenn auch in geringem Grade, aneinander verschieben können
(Rippenknorpelgelenke). S0 ist es durch die Einrichtung der Gelenke möglich ge-
worden, dem Brustkorbe eine für das Atmen unerläßliche Beweglichkeit zu geben.
Dadurch, daß sein Gerüste aus einzelnen Spangen besteht, die sowohl in ihrem
knöchernen als besonders in ihrem knorpeligen Teil einen bedeutenden Grad von
federnder Kraft besitzen, während die Zwischenrippenräume von nachgiebigen Muskeln
und Sehnen angefüllt sind, erreichte die Natur nicht nur Festigkeit, sondern gleich-
zeitig einen großen Grad von Elastizität. Ohne diese letztere Eigenschaft wäre das
Atmungsgeschäft, sobald es durch die Arbeit eine etwas stärkere Ausdehnung ge-
winnt, zu einer unerträglichen und erschöpfenden Aufgabe geworden; aber so ist die
vermehrte Spannung des Brustkorbes, sowie die Wiederkehr zur normalen Lage
durch seine federnde Kraft vereinfacht und erleichtert. Von welcher Bedeutung
diese Eigenschaft ist, zeigt die ermüdende Beschwerde tieferen Atmens beim Greise;
denn der Rippenknochen ist wie alle anderen Knochen spröde geworden, der Rippen-
knorpel hat seine Biegsamkeit verloren, und die Rippengelenke sind steif. Die
Muskeln suchen mit übermäßiger Anstrengung den starr gewordenen Brustkorb zu
heben, eine Anstrengung, die bald den Rest der schwachen Kraft zerstört, und in
Kürze eine lähmende Ermüdung bei forcierter Atmung hervorruft.
In der Elastizität des Rippenkorbes liegt gleichzeitig ein mächtiger Schutz gegen
die Einwirkung zerstörender Gewalten, welche ohne diese Eigenschaft das Gerüste
durch Druck oder Stoß zerstören würden. Die Balancierstange, an der ein Jongleur
seine Exerzitien macht, würde die Brust des Athleten, der sie auf der Brust trägt,
ebenso sicher eindrücken, wie der Ambos, der auf seiner Brust ruht und durch
Schmiedehämmer erschüttert wird, oder wie der Anprall der eisernen Kugel, die er
in die Luft schleudert und mit vorgehaltener Brust auffängt. Die Elastizität allein
ist es, die solch gefährliches Spiel gestattet. Ohne sie würden die Knochen zer-