Spezielle Knochenlehre.
sehr bald die Störung, welche in einem Mißverhältnis dieser Teile liegt.
Vorspringen der Kiefer prägt den Stempel tierischer Verwandtschaft hart
ins Gesicht. Um die Unterschiede in der Skeletbildung des Gesichtes zu
zeigen, sind zwei Schädel verschiedener Varietäten Europas nebenein-
ander gestellt, welche schon seit der ältesten Besiedelung unseres Konti-
nentes nebeneinander wohnen. Man Endet solche Formen in den Gräbern
längst verrauschter Jahrhunderte und unter den Lebenden von heute.
Sie sind in ihren Hauptmerkmalen immer dieselben geblieben und bilden,
vom Standpunkt der plastisch-anatomischen Knochenlehre aus, streng ge-
nommen Gegensätze, wenn auch im Leben beide Formen mit hellen
Augen, hellen Haaren und heller Haut und ebenso mit dunkeln Augen,
dunkeln Haaren und dunkler Haut vorkommen. In allen Epochen der
Kunst sind beide Formen dargestellt worden, hinauf bis zu den Griechen
und Römern, freilich wurde zumeist diejenige Form gewählt, Welche
als europäisches Langgesicht, als leptoprosopes Gesicht, be-
zeichnet wird.
Die Fig. 40 stellt die Vorderansicht eines Europäerschädels dar in
halber Größe. Als Stellung ist die Horizontalebene gewählt, welche in
diesem Falle den unteren Rand der Augenhöhle und den oberen Rand
der Ohröffnung streift. So kommt es bei dieser Orientierung, daß der
Schädel seinen "Blick" ebenso in die Ferne richtet wie ein Lebender,
der in ruhiger Haltung den Kopf nach der Ebene des Horizontes wendet.
Die Zeichnung giebt alle Einzelheiten wieder, sie ist also "Porträt" und
ist mit dem Orthographen hergestellt. Der Schädel stammt von einem
Mann mit hoher Nase, runden Augenhöhleneingängen, welche wegen des
schmalen Nasenrückens dicht nebeneinander liegen, enganliegenden Wangen-
beinen und J ochbogen, die Stirn hoch, ebenso das Obergesicht. Alle diese
Teile sind tadellos geformt. Schläfenlinie, Stirnglatze, Augenbrauenbogen
sind scharf und doch maßvoll. Dagegen ist das Untergesicht, d. h. der
unterhalb des Naseneinganges liegende Abschnitt des Oberkiefers und der
Unterkiefer, etwas zu stark, denn die Zahnbogen sind zu weit gebaucht,
wodurch das Ebenmaß der oberen Teile abgeschwächt wird. Dennoch
ist die Verwandtschaft dieser Gesichtsform mit jener, durch das in Fig. 43
vertretene Porträt, unverkennbar.
In einem auffallenden Gegensatz hierzu steht das Gesichtskelet einer
andern europäischen Varietät, deren Gesamtentwickelung nicht in die
Höhe, sondern in die Breite gerichtet ist. Bei dem chamaeprosopen
Gesicht ist die Stirn breit, die Augenhöhlen sind von oben nach unten
zusammengedrückt und daher länglich viereckig; der Nasenrücken ist
kurz, breit und eingebogen, woraus am Lebenden die P1att- oder Stumpf-
nase hervorgeht, welche mannigfache Abstufungen aufweisen kann. Ober-
und Unterkiefer sind kurz, auch die Zähne folgen dieser Regel; die
Wangenbeine sind abstehend und die Jochbogen ausgelegt, so daß sie