Einundzwanzigstes
Buch.
Cultus der Materie und des Fleisches kämpften; an den heiligsten Stätten
selbst sprechen diese Schöpfungen nur zu den Leidenschaften und verhüllen
nur schlecht die Ironie und den Skepticismus ihrer Urheber. Wenn es jemals
wieder eine wahrhafte christliche Kunst gebe, so werde sie sicher nicht an
die Tradition der Renaissance anknüpfenl.
Es ist schwer, stärkere Anklagen gegen die Renaissance zu erheben und
dieselbe in einen scharfem Gegensatz gegen Christenthum und Kirche zu setzen,
als es hier geschehen ist. Aber es war auch nicht leicht, das Kind unbedachter,
wie es hier der Fall ist, mit dem Bade auszuschütten. Um zu einer solchen
totalen Verurteilung zu gelangen, muss man erstens die ersten anderthalb
Jahrhunderte aus der Geschichte der Renaissance ausstreichen; man muss
zweitens die paganistisch-sensualistischen Ausläufe der Bewegung mit dieser
selbst identiiiciren und verwechseln; und man muss drittens die ganze Natur
der Bewegung und ihre Stellung in der Culturgeschichte der Menschheit
verkennen.
Das Trecento weiss und keimt nichts von irgend einem Gegensatze der
Kunst und der Künstler gegen den Geist und die Sitte des Christenthums.
Die Auftraggeberin ist fast immer oder vorwaltend die Kirche. Die Sujets
sind noch vorzugsweise dem religiösen Vorstellungskreise entnommen; noch
ist kein Bruch mit der m-ittelalterlich-religiösen Allegorik und Symbolik ein-
getreten. Die Kunst der Sienesen, der Altiiorentiner, der Altpaduaner, der
Umbrier ist durchaus religiös, und alle diese Schulen bewahren diesen Charakter
bis tief ins Quattrocento hinein. Die Klosterkunst der Dominicaner und
Franciscaner lebt von den Inspirationen, welche S. Francesco, Dante, Thomas
von Aquin ihr hinterlassen haben, und die, wie wir gezeigt haben, ihre Wirkung
und ihren Einfluss sogar bis auf Raifael hin nicht einbüssen. Im Quattrocento
führt das Auftreten des Naturalismus freilich zu einer Anschauung der körper-
lichen Schönheit des Menschen, der gesammten Natur, welche von dem mona-
calen Ideal des Mittelalters abliegt; inwieweit dabei von einem principiellen
Gegensatz gegen das Christenthum gesprochen werden kann, haben wir oben
(S. 13) gezeigt. Diese Phase war ein nothwendiges Stadium in der Entwick-
lung; es handelte sich nur darum, den Realismus in seine richtigen Bahnen
zu leiten. Ueber die Stellung der einzelnen Päpste von Martin V ab bis zu
Paul III werden Wir seiner Zeit Näheres beizubringen haben. Manche von diesen
Päpsten sind vollauf und rückhaltlos auf die Renaissance eingegangen; Einige
haben Ausschreitungen der paganistisch-sensualistisehen Richtung derselben
zurückgewiesen und gestraft; Keiner hat über irgend einen principiellen Gegen-
satz der Renaissancekunst zur Sache des Christenthums oder des Papstthums
Klage geführt.
Die noch- Wir kommen zum Ausgang des 15. Jahrhunderts und den grossen Tagen
rfflfäsfiagce der Hochrenaissance.
Papstthum. Die Flammen, welche Savonarola begruben, waren nicht im Stande, die
hochgehenden Fluthen der geistigen Bewegung zu ersticken. Die siegende
Partei der Arrabiaten setzte sich zum grössten Theil aus Anhängern der Medici
zusammen, welche Piero's schlechtes Beispiel noch mehr als in den Tagen
Lorenzo's ins Heerlager jeglicher Frivolitat hineinwarf. Die skeptisch-un-
gläubige Richtung konnte durch den Triumph der Borgia nicht zu besserer
Einsicht gerufen werden. Sie wucherte sowol in Florenz als in Oberitalien
HELBIG
JULEs
Revue
chrät.
XXXIV