Volltext: Die Kunst des Mittelalters, der Renaissance und der Neuzeit: Renaissance und Neuzeit (Bd. 2, Abth. 2, Hälfte 1)

Einundzwanzigstes Buch. 
offenbaren; andere, die man für Krankheiten halten konnte, zeigen sich 
schliesslich als nothwendige Stadien der Entwicklung. Die Unsicherheit und 
das Tastende in der Behandlung neu auftretender Evolutionen trifft nicht 
das kirchliche Princip, sondern die Anwendung desselben durch die es in be- 
stimmten Zeiten und unter bestimmten Conjuncturen vertretenden Menschen. 
Das cisalpinische Urteil über die Renaissance ist von jeher durch die 
irrthümliche Auffassung, welche man hinsichtlich ihres eigentlichen Wesens 
hegte, gefälscht worden. Sah man in der Wiederbelebung und Nachahmung 
der Antike das Wesen dieser Erscheinung, so fiel das Urteil über die Kunst 
der Renaissance sofort mit denjenigen über Humanismus und die Wieder- 
auferweckung des antiken Paganismus zusammen; den nordischen Baustilen 
der gesammten romanischen und gothischen Kunst als Schöpfungen des 
nationalen Geistes der germanischen Völker gegenüber konnte dann die 
Renaissance nur den Werth künstlicher Erweckung und Nachempfindung einer 
längst ins Grab gesunkenen Kunst beanspruchen; sie erschien nicht ebenbürtig, 
und dass sie ihre Herrschaft an die Stelle der Gothik gesetzt, musste als 
eine Versündigung an dieser und als ein Unheil erklärt werden. Ist aber, 
wie jetzt nachgewiesen ist, die Renaissance des Trecento und des Quattro- 
cento ihrem innersten Kerne nach nichts anderes als die künstlerische 
Entfaltung des italienischen Volksgeistes, so gewinnt ihre Be- 
trachtung eine ganz andere Physiognomie; sie steigt, ebenso wie die romanische 
und gothische Kunst des Nordens, als die grosse nationale That eines Volkes 
vor uns auf, das den Franzosen und Deutschen nicht bloss auf dem ästhetischen 
Gebiete ebenbürtig ist, sondern von den Nordländern den unermesslichen Vor- 
sprung eines reinern Gefühls für körperliche Schönheit und Ebenmass, einer 
klareren Empfindung für harmonische Raumverhältnisse besitzt. Beide Elemente, 
das germanische wie das lateinische, haben ihre Berechtigung; aber in ihren 
künstlerischen Instincten und Absichten sind sie verschieden. Die Gothik 
construirt aus dem Einzelnen das Ganze, die Antike und die Renaissance um- 
gekehrt aus dem grossen Ganzen das Einzelne. Zudem ist das Schönheits- 
ideal des Germanen u11d des Romanen ein anderes. Ueber den Vorzug des 
einen oder des andern zu streiten, ist gänzlich überiiüssig; das eine hat das 
andere stehen zu lassen und zu achten. Das Wesentliche, worauf es an- 
kommt, ist damit herausgestellt: der Streit über Renaissance und Gothik be- 
rührt an sich das religiös-kirchliche Gebiet durchaus nicht. Die Gegensätze 
sind in der Eigenart der Nationen begründet, sie haben, wie alle berechtigten 
Aeusserungen des nationalen Lebens, im Umkreis der Katholicität ihre volle 
Berechtigung, und man sollte endlich aufhören, im Namen der Orthodoxie 
das Eigene zu erheben und das Fremde zu brandmarken. 
S05 Kmb Was insbesondere in der Architektur die Stilfrage anbelangt, so hat man 
äigläißsigagifer einerseits die Gothik, anderseits den Renaissance-, und selbst den Barockstil 
für den ,echt kirchlichem erklärt. Was aber unter ,Kirchlichkeit' zu 
verstehen ist, ist den meisten von Denjenigen, welche über solche Dinge 
schreiben, selber unbewusst geblieben. Versteht man unter einem kirchlichen 
Baustil einen solchen, welchen die Kirche in ihren amtlichen Entscheidungen 
als zulässig oder dem Ideal der kirchlichen Architektur entsprechend bezeichnet 
hätte, so gibt es überhaupt keinen einzigen ,kirchlichen Baustil'; denn nie, 
zu keiner Zeit, hat die Kirche auf ihren Concilien oder auch nur in päpst- 
lichen Decretalen eine Entscheidung nach dieser Richtung getroffen, und es 
ist nicht wahrscheinlich, dass sie es je für angezeigt linden wird, sich zu einer
	        
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