Buch.
Einundzwanzigstes
ihm wunderbare Kräfte, selbst diabolische Künste beizulegen und demnach auch
in seinem Hauptvertreter Virgil bald einen Zauberer zu sehen, so entschied
doch für die immense Mehrheit der exclusiv theologische Standpunkt der
Betrachtung, der dann nur zu leicht zu dem Dilemma führte, die Wissenschaft
des heidnischen Alterthums entweder als etwas gänzlich Falsches, oder insofern
sie Richtiges und mit dem Dogma Uebereinstimmendes enthielt, als etwas voll-
kommen Ueberliüssiges anzusehen. Man muss den grossen Koryphäen der
Scholastik nachrülimen, dass sie eine günstigere Vorstellung von dem Werth
der natürlichen Erkenntniss gewannen. Die ,Summa' des hl. Thomas von
Aquino ßontra gentilea ist ein unzerstörbarer Protest gegen eine Vernunft-
feindliche Auffassung, die in unserem Jahrhundert in den Verirrungen des
französischen Traditionalismus einen entfernten Nachklang gefunden hat. Das
poetische Pendant zu diesem speculativen Werke bietet der Virgil Dante's.
Der Dichter der Commedia verfügte über keine Kenntniss des Griechischen;
auch ihm War die Welt der hellenischen Bildung noch ein verschlossenes
Buch, und hinsichtlich des römisch-lateinischen Alterthums stand er principiell
auf dem Boden der damaligen Theologie, aber mit starker Betonung jenes
politisch-ilnperialistischon Momentes, das in Friedrich II seinen Protagonisten
gefunden, und dem der Dichter in den letzten Gesängen des Purgatorio so be-
redten Raum in seinem ,göttlichen Drama" zuweist. Es war aber ein namhafter
Fortschritt, dass er Virgil die Rolle des Führers durch das Inferno hindurch
bis zum irdischen Paradies zuwies. Virgil ist ihm die Allegorie des Zinnen
naturale. Er weiss genau, wie weit das Licht dieser Jagione" reicht, und
er lässt sie da, wo ihre Kraft versagt, durch das lmnen divimem, die Allegorie
der sapientica divina und des übernatürlichen Glaubens und seiner Wissen-
schaft, ablösen. Aber die freie, unumwundene Anerkennung des natürlichen
Lichtes der Vernunft als Quelle der Erkenntniss und als Ordnerin der irdischen
Verhältnisse, des Staates und der Monarchie, war eine grosse That, welche
von da ab in das Bewusstsein der Zeitgenossen und der folgenden Geschlechter
eintrat und nicht wenig dazu beigetragen hat, die Neuzeit vorzubereiten.
Aber Dante ist nach einer andern Richtung viel unmittelbarer ein Vor-
läufer der Renaissance geworden. Jenes lateinische Mittelalter, welches doch
seinen Hauptsitz in der theologischen Erziehung und der Auffassung des
Klerus hatte, macht mit dem 13. Jahrhundert allmählich einem andern, volks-
thümlichen Platz, an dem auch die Geistlichen und namentlich die Mönche
lebhaft betheiligt sind, das aber doch im wesentlichen Schöpfung der Laien-
Welt war. Diese Richtung war schon im 12. Jahrhundert angebahnt worden,
wo die oben erwähnten Goliarden und Vaganten ihre heitern, zu-
weilen frivolen Lieder anstimmten. Inwieweit diese Oleirici vayantes Italiener
waren, ist eine noch nicht entschiedene Frage 1; dass sie meist mit Gering-
schätzung auf die Laien herabsahen, geht aus manchen ihrer Aeusserungen
hervor, denen man wol den Verdruss über die aufsteigende Bedeutung der
Laienwelt ansieht. Dass die Laienwelt, wie einige Gelehrte glaubten an-
Die Goliar-
den und
Vaganten.
1 BURCKHARDT (a. a. O.I 197) und JANITSCHEK
(a. a. O. S. 4) halten den italienischen Ur-
sprung der meisten und besten Vaganten-
liedel- für ausgemacht. Dagegen sprechen
sich indessen, wie mir scheint, mit triftigen
Gründen aus Q. HUBATSCH Dielatein. Vaganton-
lieder des Mittelalters, Görlitz 1870, und
COMPARETTI 1. c. I2 251 ; D. Uebers. S. 169.
BARTOLI (I precursori del rinaseimento [Filz
1877] p. 71) hat meines Erachtens mit Recht
verschiedene Nationen als an den (äoliarden-
liedern betheiligt- angenommen ; (irEIGERS Ein-
wendungen dagegen (Excnrs zu BURCKHARDT
I4 312) sind mir unverständlich.